Olbrichweg 10
Von Kontinuitäten und Brüchen der Gestaltungsausbildung auf der Mathildenhöhe
Bei einem Spaziergang über die von der UNESCO zum Kulturweltwerbe ernannten Mathildenhöhe beeindruckt vor allem das Ensemble pittoresker Bauten. Besonders die Russische Kapelle (1897 – 1899) sowie bauliche Ikonen aus der Zeit der Darmstädter Künstlerkolonie ( 1899 – 1914) begeistern den Betrachter. Auf der Rückseite des Hochzeitsturms – im Volksmund ob seiner handähnlich gestalteten Form ‚Fünffingerturm‘ genannt –, erstrahlt ein anderes Gebäude: Der schon fünfzig Jahre alte ‚Neubau‘ des Fachbereichs Gestaltung. Hinlänglich bekannt ist, dass der renommierten Ausbildungsstätte darin seit nunmehr fünf Dekaden Räume zur Verfügung stehen. Weniger bekannt sein dürfte, dass auch der Hochzeitsturm selbst zeitweise für die Gestaltungsausbildung benutzt wurde. In der Nachkriegszeit war dies der Fall. Doch die Spuren der Vorläufer des Fachbereichs Gestaltung ragen noch viel weiter in die Vergangenheit hinein – und führen auf der Mathildenhöhe nicht nur in das bekannte Darmstädter Wahrzeichen.
Bereits 1899 gründet der kunstinteressierte Großherzog Ernst Ludwig in Darmstadt eine Künstlerkolonie und beruft sieben junge Jugendstilkünstler auf die Mathildenhöhe. Und so werden bereits ab 1899 Schüler in den Lehrateliers unterrichtet – wie beispielsweise Olbrichs Meisterschüler und Assistent Friedrich Wilhelm Jochem. Da sich die Fluktuation der Künstler in den darauffolgenden Jahren zu einem deutlichen Problem für die Künstlerkolonie auswächst, werden 1907 die Großherzoglichen Lehr-Ateliers für angewandte Kunst eingerichtet. Hier können Schüler in den Räumlichkeiten des Ateliergebäudes (Ernst-Ludwig-Haus, heute Museum Künstlerkolonie) Unterricht erhalten – für 75 Mark im Jahr – und zwar von führenden Köpfen der Künstlerkolonie.
Beginn des Ersten Weltkriegs: Ende der Blütezeit der Künstlerkolonie
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs endete die Blütezeit der Künstlerkolonie. Bereits drei Jahre zuvor, im Jahre 1911, hatten die Lehr-Ateliers den Unterricht einstellen müssen. Ein wesentlicher Grund hierfür war recht profan (und ist dennoch bis in die Gegenwart immer wieder ein Politikum): Raummangel. Die bis dato genutzten Räume im Ateliergebäude wurden dringend für neu berufene Künstler benötigt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lag die institutionalisierte Gestaltungsausbildung auf der Mathildenhöhe daraufhin brach. In der Zeit der Weimarer Republik, wohl von 1919 bis 1923, existierte offenbar eine Kunstgewerbeschule, welche die Räumlichkeiten des Staatstheaters nutzte, die aber kaum tradierte Spuren hinterließ. Zudem unterrichtete der Leiter des Gewerbemuseums, das damals in der Neckarstraße 3 angesiedelt war, zwischenzeitlich an der Technischen Hochschule (TH) Darmstadt Kunstgewerbegeschichte. Eine originäre Ausbildungsstätte für Gestalter etablierte sich aber erst nach 1945 – und nun wieder auf der Mathildenhöhe.
Nachkriegszeit: Vor der Städtische Kunstschule Darmstadt zur Werkkunstschule
Als 1945, nur kurze Zeit nach Kriegsende, seitens der Darmstädter Stadtverwaltung die Idee aufkam, eine Kunstschule auf der Mathildenhöhe zu errichten, bezogen sich die Verantwortlichen dezidiert auf die lange Tradition vor Ort. Unter dem Namen ‚Künstlerkolonie Darmstadt, Lehrwerkstätten für bildende Kunst‘ nahm die Schule Anfang 1946 mit zunächst 60 Schülern eine Art provisorischen Betrieb auf. Die Rahmenbedingungen waren problematisch. Große Teile der Bausubstanz auf der Mathildenhöhe waren 1944 zerstört worden, so auch die Ateliergebäude. Baumaterialien waren Mangelware, die Bereitstellung adäquater Räumlichkeiten verzögerte sich. Es musste improvisiert werden. Unterricht fand in den Sektlauben der Mathildenhöhe statt, vorübergehend auch im Jagdschloss Kranichstein sowie im Hochzeitsturm und in den Ausstellungshallen. Offiziell eröffnete die neue Ausbildungsstätte im Februar 1947 unter dem Namen ‚Städtische Kunstschule Darmstadt‘. Etwa sechzig Schüler nahmen anfangs die Arbeit im Lehrbetrieb auf. Der Raummangel führte seinerzeit dazu, dass zu Beginn nur von einer Zeichenschule die Rede sein kann.
Die Ausbildungsstätte entwickelte sich in der Folge zu einer modernen Gestaltungsschule. Zwei wichtige Ereignisse auf diesem Weg datieren aus dem Jahr 1950: Die Kunstschule wurde Anfang 1950 umbenannt in ‚Werkkunstschule Darmstadt‘, was mit weit reichenden Konsequenzen verbunden war, da für den Anschluss an die Werkkunstschulen diverse Umstrukturierungen notwendig erschienen. Trotz staatlicher Anerkennung blieb die Schule aber eine städtische Einrichtung, die regional in Konkurrenz zu den Werkkunstschulen in Offenbach und Wiesbaden stand. Wie vergleichbar an anderen Werkkunstschulen, so fanden auch in Darmstadt Grundsatzdebatten statt, welche die inhaltliche Ausrichtung der Werkkunstschule zum Thema hatten. Kontrovers wurde diskutiert, ob die künstlerisch-menschliche Persönlichkeitsbildung das zentrale Anliegen der Einrichtung sein sollte oder eher eine praxisorientierte Ausbildung zu verfolgen sei; eingeführt wurden schließlich praxisgebundene Methoden und Disziplinen. „Methodisch wie inhaltlich lassen sich allerdings kaum direkte Verbindungslinien von den Lehr-Ateliers der Künstlerkolonie zur modernen Gestaltungsausbildung ziehen“, versichert Justus Theinert, Professor für Entwurf und Theorie am Fachbereich Gestaltung der Hochschule Darmstadt. Gemeinsam mit Kai Buchholz hat Theinert ein zweibändiges Werk zur Geschichte der Gestaltungsausbildung in Deutschland veröffentlicht, mit einem starken Fokus auf Darmstadt (‚Designlehren‘, 2007). Schon die Ausbildung an der Werkkunstschule, der direkten Vorgängerinstitution des Fachbereichs Gestaltung, habe mit den Verhältnissen der Lehr-Ateliers kaum mehr etwas zu tun gehabt, so Theinert weiter. An die Seite der namentlich/inhaltlichen Änderung trat eine räumliche Neuordnung: Im Oktober 1950 konnten die Künstlerateliers im Olbrichweg 10 von der Werkkunstschule bezogen werden, wo bis heute (firmierend unter ‚Altbau‘) Räume des Fachbereichs Gestaltung untergebracht sind.
Grundlagenstudium in Innenarchitektur, Industriedesign, Werbegrafik und Fotografie
Mitte der 1950er Jahre wurden ambitionierte und durchaus weit gediehene Anstrengungen unternommen, in Darmstadt eine ‚Modell-Schule‘ mit Hochschulrang zu implementieren. Gedacht als Gegenpol zur Hochschule für Gestaltung in Ulm, sollte eine umfangreiche Vernetzung mit der TH Darmstadt erfolgen. Finanzielle Schwierigkeiten sowie der individuelle Widerstand seitens der amtierenden Leitung der Werkkunstschule verurteilten das Unternehmen jedoch zum Scheitern. Mitte der 1960er Jahre etablierte sich an der Werkkunstschule ein didaktisch schlüssiges Grundlagenstudium. Neben Innenarchitektur, Industriedesign und Werbegrafik wurde auch Fotografie als Gegenstand der Lehre angeboten. Geschlossen wurde hingegen die Fachklasse Bildhauerei, die bis dahin (1967) in Räumlichkeiten des Ernst-Ludwig-Hauses untergekommen war. Problematisch gestaltete sich erneut die räumliche Situation. Schon 1962 war aufgrund fehlender Räume ein Neubau angrenzend an das alte Schulgebäude im Olbrichweg 10 beschlossen worden. Ende 1964 konnte dann tatsächlich mit den Bauarbeiten begonnen werden. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten seitens der Stadt Darmstadt verzögerte sich der Bau allerdings enorm, stand schließlich über drei Jahre (von Februar 1967 bis Mai 1970) vollkommen still. Und das, obgleich dringend neue Räume erforderlich waren: Im Fotolabor, mangels geeigneter Räume in der Oetinger Villa untergebracht, kollabierten Studenten aufgrund mangelhafter Belüftung und in den Kellerwerkstätten behinderten Schimmel und Feuchtigkeit den Lehrbetrieb.
1960er Jahre: Reformbemühungen für eine Hochschule für Design
Die angestoßenen Reformen der 1960er Jahre gerieten ab 1968 ins Stocken, da der zunächst aufgeschlossene Direktor der Werkkunstschule Darmstadt allen Reformbestrebungen von Dozenten und Studenten seine Zustimmung verweigerte. Ziel der Reformbemühungen war die Ablösung der bislang geltenden Schulstruktur (Direktor-Entscheid gegenüber einer Dozenten-Studenten-Konferenz im Verhältnis von 1:1) und eine Neuausrichtung der Lehre auf eine praxisorientierte Ausbildung der Lehre unter Einbeziehung bisher weitgehend unbeachteter sozialer und ökologischer Fragestellungen. Aus diesem Geiste heraus entstand (gegen den nur noch zeitweise amtierenden Direktor der Werkkunstschule) ein von Dozenten und Studenten in den Jahren 1968 / 69 gemeinsam entworfenen Grundsatzprogramm. Ohne amtliche Bestätigung wurde die Schule ab dem Wintersemester 1969 vorläufig (und illegal) unter dem Namen ‚Hochschule für Design‘ auch nach außen hingeführt. Während dieser Zeit ( 1968 – 69 ) wurden an der Werkkunstschule beziehungsweise an der Hochschule für Design zwei unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten diskutiert: Entweder die Gründung einer eigenen Hochschule für Gestaltung oder die Angliederung als autonomer Fachbereich an die TH Darmstadt. Die bereits weit gediehenen Verhandlungen mit der TH gerieten jedoch vor allem durch die dortigen Umstrukturierungen (auch auf Leitungsebene) immer wieder ins Stocken. 1970 formierte das Land Hessen die Hochschulen neu und so wurde die Werkkunstschule Wiesbaden der dortigen neu installierten Fachhochschule angegliedert. Obwohl sich in Darmstadt eine Annäherung zwischen der Werkkunstschule und der TH abgezeichnet hatte, wurde die Werkkunstschule Darmstadt „über Nacht“ zum elften Fachbereich der Fachhochschule Darmstadt. Einzig die Werkkunstschule Offenbach wurde zur Kunsthochschule, da sie die einzige Bildungseinrichtung am Ort war.
Eingliederung in Fachhochschule Darmstadt: Fachbereich mit besonderer Stellung
Mit der Eingliederung in die Fachhochschule Darmstadt waren gravierende Einschnitte für die Designausbildung am Fachbereich Gestaltung verbunden: Die Studiendauer wurde zunächst von neun auf sechs Semester reduziert, ein Eignungstest abgeschafft und die Aufnahmequote drastisch erhöht. Damit wurden die Ausbildungsbedingungen am Fachbereich gegenüber fast allen anderen vergleichbaren Designausbildungsstätten in der BRD deutlich benachteiligt. „Dennoch hat der Fachbereich die Eingliederung in die Fachhochschule nie als Provisorium begriffen“, wie Heinz Habermann, Dekan des Fachbereichs von 1971 bis 1986, betont. „Dies vor allem, weil auf Leitungsebene der Hochschule die besondere Ausbildungsproblematik für diesen Fachbereich auch im Vergleich zu den anderen Designausbildungsstätten in der BRD stets gesehen wurde“, so Habermann weiter. Mit Unterstützung der Hochschulleitung wurden so schon sehr früh, bereits in den 70er Jahren, immer wieder Professoren aus anderen Hochschulen der BRD oder anderen Ländern, wie den USA oder Polen für Lehraufträge verpflichtet. Ebenso wurde der Austausch von Studierenden mit fast allen Kunsthochschulen europäischer Länder (heute auch in den asiatischen Raum) nachhaltig gefördert. Ziel aller Beteiligten war es, von Beginn der Eingliederung der Werkkunstschule in die Fachhochschule einen hohen Ausbildungsstandard am Fachbereich zu erreichen, der es den Absolventinnen und Absolventen ermöglicht(e), als kreative Designerinnen und Designer tätig zu sein. Damit einher ging stets der Kunsthochschulgedanke, der entgegen aller Widerstände bis heute weitergetragen wurde und für die besondere Stellung des Fachbereichs nicht nur an der Hochschule, sondern über die hessischen Grenzen hinaus steht. Deshalb gibt es auch hier längst wieder – wie an anderen Kunsthochschulen – eine Eignungsprüfung und ein Diplom mit in der Regel zehn Semestern Studiendauer, das auf Master-Niveau anzusiedeln ist. Aus der Reformbewegung entstanden ist auch das Ziel, am Fachbereich Gestaltung eine Ausbildung anzubieten, die für ein nachhaltiges Design und angewandte Kunst steht.
Mit der Eingliederung der Werkkunstschule in die damalige Fachhochschule wurde 1971 auch der erste Teil des Neubaus am Olbrichweg fertig gestellt und im Oktober 1971 bezogen. Seither werden dort Gestalterinnen und Gestalter in Industrie- und Kommunikationsdesign ausgebildet. Die anfangs noch unterrichtete Innenarchitektur ist seit 1976 Teil des Fachbereichs Architektur. Der projektierte zweite Bauabschnitt des Neubaus wurde nie umgesetzt. Mit der grundlegenden Sanierung am Olbrichweg 10, von Alt- und Neubau 2010 / 2011, verfügt er nun über zeitgemäße Räumlichkeiten an bemerkenswert traditionsreichem Ort. Und gegenüber, im Hochzeitsturm, steht statt Bildung heute Bindung auf dem Programm – im dortigen städtischen Standesamt.
Holger Köhn, mika
Website des Fachbereichs
Literaturhinweis
Kai Buchholz, Justus Theinert: Designlehren - Wege deutscher Gestaltungsausbildung. Arnoldsche Verlagsanstalt. Stuttgart. 2007.