Urzelle mit festem Kern und wechselnden Standorten
Das Bauingenieurwesen ist der älteste Fachbereich der Hochschule Darmstadt
Als Fachbereich mit der längsten Tradition ist das Bauingenieurwesen die historische Urzelle der Fachhochschule. Seine Wurzeln und damit auch die der Hochschule reichen ins Jahr 1839 zur Gründung der ‚Bauhandwerkerschule Darmstadt‘ zurück und sind gewachsen auf dem Boden der damaligen Entwicklungen in der Arbeits-, Bildungs- und Technikwelt. Die Industrialisierung war in vollem Gange. In Preußen war 1785 die erste Dampfmaschine in Betrieb gegangen, 1807 fuhr in England das erste Dampfschiff und seit 1835 die erste deutsche Eisenbahn zwischen Fürth und Nürnberg. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Einerseits. Andererseits gab es gerade vor dem Hintergrund der sich daraus ergebenden Erfordernisse Mängel zu beklagen: Es fehlte an Technikern und an Bildungsmöglichkeiten für sie.
1836 leitete die Regierung des hessischen Großherzogs Ludwig II. eine wirtschaftliche Neuorientierung in Hessen ein mit der Gründung des ‚Landesgewerbevereins für das Großherzogtum Hessen‘ (LGV). Diese oberste Behörde des gesamten gewerblichen Schulwesens hatte die Aufgabe, „den vorhandenen Zustand des Gewerbewesens im Großherzogtum zu erforschen und durch gemeinsames Streben sowohl den Umfang als auch die höhere Ausbildung des inländischen Gewerbes zu fördern“, wie es in der Verfügung hieß.
Von der Bauhandwerkerschule zur Großherzoglichen Landesbaugewerkschule Darmstadt
Der LGV bildete lokale Gewerbevereine und diese wiederum gründeten Handwerkerschulen, deren Ausbildungsziel das Ablegen von Meisterprüfungen war. In Darmstadt entstand so 1839 eine Bauhandwerkerschule als reine Winterschule, wo zunächst nur ein gutes Dutzend Schüler zwischen Dezember und März unter anderem in Zeichnen, Geometrie oder Buchführung unterrichtet wurden. Nachdem die Schülerzahl 1876 auf die Rekordmarke von 40 gestiegen war, übernahm sie der LGV und erhob sie zur ‚Großherzoglichen Landesbaugewerkschule Darmstadt‘. Angesiedelt zwischen Fachschulen und Technischer Hochschule, sollte die neue Schule Absolventen einer Bauhandwerkerschule eine weitere Ausbildung zum Bautechniker ermöglichen. Diese dauerte zunächst drei Semester und war ab 1895 ganzjährig, bevor die Lehrzeit erneut im Jahr 1905 auf fünf Semester ausgeweitet wurde. Die Schülerzahl war mittlerweile auf mehr als 200 angestiegen. Das Schulgebäude aus dem Jahr 1877 befand sich in der Neckarstraße 3 und wurde aus Raummangel 1910 durch einen Neubau ersetzt.
In den ersten fünfzig Jahren ihres Bestehens wandelte sich die Schule für Handwerkermeister zu einer Ausbildungsstätte für Bautechniker, die von dort eine Beamtenlaufbahn in Bauverwaltungen einschlagen konnten. Diesen Wandel markierte auch die Umbenennung 1927 in ‚Hessische Höhere Landesbauschule Darmstadt‘. Besonders befähigte Absolventen durften schon seit 1926 ein Studium an der Technischen Hochschule aufnehmen. 1933 erhielt die Schule die im gesamten Reichsgebiet eingeführte Bezeichnung ‚Staatsbauschule‘ und wurde 1936 nach Mainz verlegt. Zusammen mit der Staatsbauschule Bingen und der Bauabteilung des Polytechnikums Friedberg wurde sie zur ‚Höheren Technischen Staatslehranstalt für Hoch- und Tiefbau‘ (auch ‚Adolf-Hitler-Bauschule Mainz‘) vereinigt und war damit Hessens einzige Bauschule. Durch kriegsbedingte Zerstörung war dort ab 1945 jedoch kein Unterricht mehr möglich und das ehemalige Schulgebäude in Darmstadt war bereits 1944 völlig zerstört worden.
Notunterkünfte in der Nachkriegszeit
Unter den harten Nachkriegsbedingungen gelang es im Wintersemester 1946/47, in Darmstadt wieder Unterricht zu ermöglichen – zunächst in Notunterkünften in der Rundeturmstraße, im Stadtkrankenhaus und in der ehemaligen Handelsschule in der Riedeselstraße. 1949 konnten die Studenten das in Selbsthilfe wieder aufgebaute frühere Schulgebäude in der Neckarstraße beziehen, wo jedoch erst ab dem Wintersemester 1950/51 wieder normaler Unterricht anlief – mit damals 22 Lehrkräften und 390 Studenten. Und zunehmender Raumnot.
Doch es sollte noch fast zehn Jahre dauern, bis die Neubauten in der Havelstraße die Enge beendeten und eine neue Ära in der Entwicklung des Fachbereichs einleiteten: 1962 zogen die Bauingenieure in den dreigeschossigen Atriumbau in der Havelstraße, wo sie ab 1965 an der ‚Staatlichen Ingenieurschule für Bauwesen Darmstadt‘ neben dem Hochhaus der Maschinenwesen-Ingenieurschule als Teil des neuen Ingenieurschulzentrums Darmstadt in der Schöfferstraße und mittlerweile sechs Semester lang studieren konnten.
Eigene Fachbereiche Bauingenieurwesen und Architektur
Damit waren die Bauingenieure zwar räumlich angekommen, doch beschäftigten sie in der Übergangsphase zur Fachhochschule inhaltliche Fragen über die Zukunft der Ingenieursausbildung – auch mit dem Wunsch nach mehr Anerkennung in der Gesellschaft und in der zunehmend auch internationalen Hochschullandschaft. Man forderte unter anderem ein höheres Eingangsniveau, eine weniger verschulte und mehr berufsfeldorientierte Lehre, mehr selbstständiges Arbeiten, Selbstverwaltung und Mitbestimmung. Konkret ausgestaltet wurde das in Arbeitskreisen von Lehrenden und Studierenden, die entsprechende Studienprogramme entwarfen. Mit Gründung der Fachhochschule 1971 schließlich wurde aus der Fachrichtung Tiefbau der Fachbereich Bauingenieurwesen und der Hochbau zum Fachbereich Architektur.
Hans-Joachim Holzapfel kann sich noch gut an die Anfänge an der Havelstraße erinnern – allerdings nicht als Student, denn sein Studium hatte er an der Technischen Hochschule absolviert, sondern als junger Professor, der die Weiterentwicklung zur Fachhochschule und schließlich zur Hochschule bis zu seiner Pensionierung 2010 mitbegleiten sollte. Bei seinem Einstieg nicht mal 30 Jahre alt, traf er damals auf „die alte Riege, die mit Selbstverwaltung der Hochschule und Forschung wenig zu tun hatte“, wie er erzählt. Die Fachhochschule sei noch ein kleines Pflänzchen gewesen im Vergleich zur TH. „Es gab wenig Mittel, und die Forschung lag bei null.“ Aber dafür sei das Betreuungsverhältnis in jenen Tagen „herrlich“ gewesen: Auf eine Lehrkraft seien zwölf Studenten gekommen, Übungen seien doppelt besetzt gewesen und Vorlesungen wurden als seminaristischer Unterricht durchgeführt. Eine Teilnehmerstärke von maximal 30 Studenten verbunden mit der Möglichkeit, jederzeit Fragen zu stellen, sei ein großer Pluspunkt gewesen. „Das war eine fantastische Atmosphäre“, schwärmt Holzapfel im Rückblick. „Da konnte man noch richtig was beibringen.“
Das änderte sich durch den Ansturm, den die FH in den achtziger und neunziger Jahren erlebte und den auch die Bauingenieure zu spüren bekamen. Holzapfel: „Der Platz im Atrium hat nicht mehr gereicht.“ Zwar hatten die Bauingenieure 1973 die neue Mehrzweckhalle für Wasserbau und Siedlungswasserwirtschaft, Straßenbau und Grundbau und somit mehr Platz erhalten. Doch ebbte der Zustrom nicht ab. „Alarm bei den Bauingenieuren der FH“, titelte 1992 das ‚Darmstädter Echo‘ in einem Bericht über 240 Erstsemester, die sich auf 120 Laborplätzen drängten. Dass sich 1994 in dem umgebauten ehemaligen Dugena-Komplex im Haardtring ein Ausweichdomizil auftat, sorgte zwar für räumliche Entspannung, war aber nicht unumstritten. „Da ging es heiß her“, erinnert sich Holzapfel an die Diskussionen zwischen Bauingenieuren und Architekten, wer von beiden das überfüllte Atrium verlassen soll. Dass schließlich die Bauingenieure gingen, sei auch schmerzlich gewesen. „Der Fachbereich wurde gespalten“, befindet Holzapfel, etwa mit Blick auf die Wasserbauhalle, in der Teile des Fachbereichs verblieben. „Dadurch hat sich die Atmosphäre irgendwie geändert.“
aw/mika