Solidarität statt Rendite?
Mit ihrem 1. Dialog-Forum trifft die h_da einen Nerv: Rund 300 Bürgerinnen und Bürger verfolgen die Podiumsdiskussion über das Verhältnis von Gemeinwohl-Ökonomie und Wirtschaftswachstum live im Darmstädter Schader-Forum.
Fast 300 Teilnehmende füllten am Abend des 15. Januar die Stuhlreihen im Darmstädter Schader-Forum. „Gemeinwohl-Ökonomie und Wirtschaftswachstum“ – das Thema des 1. h_da Dialog-Forums war offenbar ein Volltreffer. Mit dem neuen Format will die Hochschule Darmstadt (h_da) die an wissenschaftlichen Fragestellungen interessierte Bevölkerung erreichen. Bei der Premiere ging es im Kern um die Frage: Lässt sich die Steigerungslogik unseres Wirtschaftssystems durchbrechen und das Gemeinwohl als maßgeblicher Faktor neben dem Renditestreben etablieren?
Eine E-Mail hatte den Stein ins Rollen gebracht. Eine Veröffentlichung von Prof. Dr. Thomas Döring, Leiter des Zentrums für Forschung und Entwicklung (ZFE) und des die neue Reihe verantwortenden Servicezentrums Forschung und Transfer (SFT) der h_da, veranlasste Christian Felber im August 2019 dazu, Döring einige kritische Anmerkungen dazu zu schicken. Nach kurzem Austausch kamen Döring, Professor für Politik und Institutionen mit Schwerpunkt Institutionenökonomik, und der streitbare Initiator der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung aus Wien überein, ihrer Debatte eine größere Bühne zu geben. Diese Vorgeschichte verriet Thomas Döring in seiner Anmoderation des 1. h_da Dialog-Forums, das in der gastgebenden Schader-Stiftung seinen Kooperationspartner hatte.
Zunächst hatte Christian Felber die Bühne für sich allein. In seinem Vortrag kritisierte er, dass sich das westliche Wirtschaftssystem von seiner ursprünglichen Bestimmung entfernt habe. In Aristoteles’ Verständnis der „oikonomia“ sei Geld lediglich ein Mittel gewesen, das dem Zweck diente, ein „gutes Leben“ zu führen. Unser Grundgesetz („Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“) und verschiedene Landesverfassungen enthielten dieses Postulat zwar weiterhin. Tatsächlich habe sich das Wirtschaftssystem aber verselbstständigt. Felber warnte: „Die Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument. Das Gemeinwohl sollte das übergeordnete Ziel sein, dem alle wirtschaftlichen Aktivitäten dienen sollten.“
Die Vermessung des Glücks
Felbers radikaler Ansatz: Unternehmerischer Erfolg sollte sich am Kriterium Gemeinwohl festmachen. Um Gemeinwohl messbar zu machen, greift er aus demokratischen Verfassungen bestimmte Werte heraus, die Kenngrößen sein könnten – etwa Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit oder ökologische Nachhaltigkeit. Bereits vorhandene Anreizsysteme, sagt Felber, könne der Gesetzgeber entsprechend umfunktionieren, indem er gemeinwohlorientiertes unternehmerisches Handeln beispielsweise mit Steuervorteilen oder günstigen Krediten belohne.
Wohlstandsindikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt möchte Christian Felber durch menschliche Grundbedürfnisse ersetzt sehen – und erhebt dabei das Empfinden von Glück zum zentralen Fixpunkt. Unsere wirklich wichtigen Bedürfnisse seien das Erleben der Geburt des eigenen Nachwuchses oder das Gelingen zwischenmenschlicher Beziehungen. „Wir aber haben unsere Bedürfnisse weitgehend von monetären Werten abhängig gemacht.“
Felber verfolgt die Vision, den Markt und dessen Wertesystem zu transformieren: „Weg von Gewinnstreben und Konkurrenz, hin zu Gemeinwohl-Streben und Kooperation.“ Ganz unbescheiden hat der Wiener in einer Grafik auf halbem Weg zwischen den altbekannten Polen Kapitalismus und Sozialismus die Gemeinwohl-Ökonomie als alternative Ordnung eingefügt. Und er wünscht sich Transparenz: „Warum werden Unternehmen nicht verpflichtet, eine Gemeinwohl-Bilanz zu erstellen?“
Intensive Diskussion
Finden Wachstum und Gemeinwohl zusammen? Der Titel der Veranstaltung bildete auch die Eingangsfrage der intensiven einstündigen Podiumsdiskussion. Darin erörterten die fünf Diskutanten auf dem Podium gemeinsam mit dem Auditorium, ob und wie sich unser Wirtschaftssystem stärker auf das Gemeinwohl ausrichten lässt. Moderiert wurde die Diskussion von Dr. Kirsten Mensch, wissenschaftliche Referentin der Schader-Stiftung, und Prof. Dr. Ulrich Klüh, Professor für Volkswirtschaftslehre und einer der Leiter des Zentrums für Nachhaltige Wirtschafts- und Unternehmenspolitik der h_da.
Dr. Friederike Habermann, Volkswirtin, Historikerin, freie Wissenschaftlerin und Autorin („Ecommony“) strebt ein anderes Wirtschaften an, dessen Wesen strukturelle Gemeinschaftlichkeit ist. Ihre Forderung: „Markt, Staat, Alltag – wir müssen alles demokratisieren. Demokratie muss die Marktmechanismen aufheben, sonst wird es immer einen strukturellen Widerspruch geben.“ In diesem Punkt zeigt sich Christian Felber moderater: „Einen Markt zu haben, ist okay. Aber wir müssen den Kapitalismus aus dem Markt ziehen! Der Kapitalismus hindert die Wirtschaft daran, gemeinwohlorientiert zu sein und zerstört Innovationskraft.“ Verstehe man den Markt als Mittel, impliziere das aber auch, dass er von besseren Mitteln abgelöst werden könne. „Der erste Schritt ist es, die kapitalistischen Märkte zu gemeinwohlorientierten Märkten zu machen.“
Negativbeispiel Klimapaket
Als Beleg für die Schieflage unseres wirtschaftlichen und politischen Systems führten Felber wie Döring das von der Bundesregierung kürzlich verabschiedete Klimapaket an. Obwohl die Dringlichkeit außer Frage stehe und eine Mehrheit der Bevölkerung einschneidende Maßnahmen befürworte, habe die Politik „nur ein jämmerliches Klimapäckchen“ (Felber) zustande gebracht. „Der Einfluss großer Unternehmen auf politische Entscheidungen ist um ein Vielfaches höher als der von uns Bürgern“, schlussfolgerte Felber. „Die kapitalistischen Interessen blockieren größere Lösungen.“
Auch Thomas Döring sieht den Gesetzgeber in der Pflicht („Der Staat macht seinen Job nicht“), stellt deshalb aber nicht die Systemfrage: „Wir müssen das kapitalistische System richtig nutzen!“ In dieselbe Kerbe schlug seine h_da-Kollegin Prof. Dr. Friederike Edel: „Wir brauchen mutigere staatliche Entscheidungen und Förderungen!“ Und Döring empfahl, sich intensiv mit der Beantwortung der Fragen zu befassen, woran es liege, dass der Staat so wenig macht – und ob die Politik vor der Wirtschaft kusche.
Zumindest im öffentlichen Sektor der Wirtschaft gehe es auch schon ohne Wachstum, darauf wies Prof. Dr. Klaus-Michael Ahrend hin, Vorstandsvorsitzender der HEAG Holding. Kommunale Eigenbetriebe oder mittelbare städtische Beteiligungsgesellschaften kämen ohne Gewinnziele aus. Dass derlei keine Utopie bleiben muss, zeigte die kurze, aber prägnante Wortmeldung eines Unternehmers aus Wiesloch. Uwe Treiber, Geschäftsführer der Sonnendruck GmbH, die sich vor Jahren Ökologie und Nachhaltigkeit verschrieben hat und gemeinwohlorientiert arbeitet, bezeichnete das als goldrichtige unternehmerische Entscheidung. Sein griffiges Statement: „Gemeinwohl ist geil!“
Eigenes Verhalten hinterfragen
„Was kann die und der Einzelne konkret tun, damit das Wirtschaftssystem sich stärker am Gemeinwohl orientiert?“ Diese Frage kam so oder so ähnlich gleich mehrfach aus dem Auditorium. In ihren Antwortversuchen streiften die Diskutanten verschiedene Formen bürgerschaftlichen Engagements und politischer Teilhabe von Protest bis Wahlurne. Aus diesem Zusammenhang heraus mahnten Wortmeldungen auch Selbstreflexion und Selbstkritik an: „Wie kommen wir von unseren Ansprüchen und Gewohnheiten herunter und aus unseren Komfortzonen heraus?“ Die Einsicht: Stellt man die Fragestellung des Abends in den globalen Kontext, so bietet unser ressourcenintensiver westeuropäischer Lebensstil zahlreiche Ansatzpunkte, das (weltweite) Gemeinwohl zu stärken. Wenn wir es denn wollen. Anregungen für individuelle Einflussmöglichkeiten lieferten Felber und Döring. Man könne das eigene Konsumverhalten hinterfragen, regionale und fair produzierte Erzeugnisse kaufen, die Produkte bestimmter Unternehmen mit großer Marktmacht meiden und den eigenen ökologischen Fußabdruck im Auge behalten.
Die Diskussion schlug so den Bogen von der Vision der auf das Systemische zielenden Gemeinwohl-Bewegung zu den dem Gemeinwohl dienenden individuellen Handlungsoptionen. Daran knüpfte auch Thomas Döring in seinem Schlusswort an die engagiert mitdiskutierenden Besucherinnen und Besucher an: „Ich wünsche mir, dass wir alle unsere heute gezeigte Haltung und Einstellung in entsprechendes Handeln und Verhalten übersetzen.“
Text
Daniel Timme
16. Januar 2020