Pionier der Fernsehtechnik

Er ist einer der ältesten Alumni der Hochschule Darmstadt (h_da). Vor 70 Jahren war Heinrich Zahn unter den ersten Studenten, die an der Städtischen Ingenieurschule Darmstadt, einer Vorläufereinrichtung der h_da, ihr Studium der Elektrotechnik aufnahmen. Für den heute 90-Jährigen war das der Start in ein international erfolgreiches Berufsleben als Konstrukteur und Pionier der Fernsehtechnik.

Es gab diesen einen Moment, wo es bei Heinrich Zahn Klick gemacht hat. An den erinnert er sich noch, als wäre es erst gestern gewesen. Er war ein kleiner Junge und besuchte als Feriengast in den 30er Jahren in Aschaffenburg eine Unterrichtsstunde. Der Lehrer führte einen Versuch vor, der eine Glühbirne zum Leuchten brachte. "Da wusste ich: Das wollte ich auch machen." Für den jungen Heinrich stand von diesem Moment an fest, dass er Ingenieur werden wollte, Elektrotechnik-Ingenieur. Ein Ziel, das er konsequent verfolgte.

Festen Schrittes kommt Heinrich Zahn zum Tor seines Hauses in Roßdorf. Er ist gerade 90 Jahre alt geworden, ein Alter, das man ihm weder ansieht, noch anmerkt. Er zählt zu den wenigen seines Semesters, die noch leben. Von den 28 Absolventen, die im Frühjahr 1947 als erste Schüler ihr Studium der Elektrotechnik an der Städtischen Ingenieurschule Darmstadt aufnahmen, sind im Sommer 2017 noch vier auf der Welt. "Vielleicht liegt es daran, dass ich ein harmonisches Leben ohne Sorgen hatte", resümiert er und blickt zu seiner Frau, mit der er unterdessen 64 Jahren verheiratet ist. Auch bei seiner Frau Anneliese wusste Heinrich Zahn früh, dass sie die Richtige war. Sie war 16, gab ihm zunächst einen Korb, "aber steter Tropfen höhlt den Stein", lacht er. Mit Rosen umwarb er sie solange, bis sie Ja sagte.

Heinrich Zahn wurde in München geboren, lebte als Teenager in Dresden und Berlin. Seine Familie hatte internationale Wurzeln. Die Mutter wuchs in New York auf. Dorthin war Zahns Großvater ausgewandert, weil er eine Frau heiraten wollte, die seinen Eltern nicht genehm war. Heinrich ist das jüngste von vier Kindern und gerade 12, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Er besucht ein humanistisches Gymnasium in Berlin, doch mit 15 Jahren beschließt er, die Schule abzubrechen. "Ich bin nur Volksschüler", kokettiert er manchmal noch gern. Der Schulabbruch geschieht nicht freiwillig, sondern aus Kalkül. "Ich wollte nicht als Flakhelfer eingezogen werden. 13 meiner damaligen Schulkameraden sind umgekommen. Ich wollte mich nicht totschießen lassen." Er beginnt eine Lehre als Feinmechaniker - Lehrlinge blieben vorerst vom Kriegsdienst verschont.

Dreieinhalb Jahre dauert seine Ausbildung bei den Physikalischen Werkstätten Berlin, doch schon während dieser Zeit steckt er seine Nase vor allem in technisch-wissenschaftliche Literatur. Ende 1943 wird er dann doch noch zum Arbeits- und später Wehrdienst an der Ostfront eingezogen, flüchtet kurz vor Kriegsende zu Fuß vor den Russen ins damalige Sudetenland. "Nach Eger, da waren die Amerikaner", sagt er. Als er im Sommer 1945 aus der Gefangenschaft nach Berlin zurückkehrt, ist der Vater in Russland verschollen, die Familie mittellos. Die Schwester lebt in Aschaffenburg, zu ihr zieht Heinrich Zahn in eine winzige Dachwohnung.

Der Wunsch, zu studieren und Ingenieur zu werden, hat den Krieg überdauert. In einer Schule in Aschaffenburg holt er seine fehlenden Mathematik-Kenntnisse nach, bewirbt sich 1947 bei der Städtischen Ingenieurschule Darmstadt für den ersten Studiengang Elektrotechnik. Unter 75 Bewerbern wird er angenommen. Er kann eine Facharbeiter-Ausbildung nachweisen und die Aufnahmeprüfung in Mathematik und Physik besteht er ohne Schwierigkeiten. "Ich war immer ein neugieriger Mensch. Lernen hat mir Spaß gemacht."

Morgens um 5.40 Uhr fährt er ab Mai 1947 nun werktags mit dem Zug von Aschaffenburg nach Darmstadt. Unterrichtsbeginn ist um 7 Uhr. "Vorher mussten wir aber 14 Tage in Darmstadt Schutt schippen." Die ehemalige Residenzstadt liegt in Trümmern. Über Schuttberge müssen die Studenten zu ihrer Schule in der Eschollbrücker Straße klettern. Heinrich Zahn hat die Schwarzweiß-Fotos aus dieser Zeit aufgehoben. Sie zeigen 27 junge Männer in Anzug und Krawatte und eine Frau in einer Klasse mit groben Backsteinwänden und Holzbänken. In der Schule ist es kalt, es zieht durch die Fenster. Im Winter sitzen die Studierenden im Mantel in den Vorlesungen. Statt Mensa gibt es Schulspeisung und "das Wort Campus kannten wir gar nicht", lacht der 90-Jährige.

Die einzige Studentin des Semesters heißt Gisela Mischker. "Eine sehr kluge Frau", sagt Heinrich Zahn. Mit ihr steht er noch immer in Verbindung. Der Zusammenhalt ist groß. Das Verhältnis von Studenten und Dozenten ist freundschaftlich, fast familiär. Daran erinnert sich Heinrich Zahn gerne. "Wir waren eine lebensfrohe Gruppe, haben viele Ausflüge gemeinsam unternommen." Wilhelm Peter, einer der Dozenten, lässt sein Fahrrad oft von Heinrich reparieren, aber das ist meist nur Vorwand, damit er und seine Frau den schmächtigen Jungen mit Essen bewirten können. "Bei ihm habe ich viel gelernt. Er hat uns zu kritischem Denken erzogen", erzählt Zahn.

Fünf Semester dauert das Studium. Es gibt eine Art Vordiplom-Prüfung nach drei Semestern. Nur wer die besteht, darf weitermachen. Heinrich Zahn hat durchweg gute Noten. "Wir hatten junge, begeisterungsfähige Dozenten", sagt er. "Ich habe im Studium weit mehr gelernt, als erhofft." Nur mit einem Dozenten hat er Probleme - im Fach Maschinenteile. Der Professor gibt ihm den Rat, keineswegs Konstrukteur zu werden. Heinrich Zahn kichert fast jugendlich, ist das doch der Bereich, in dem er später in seiner Laufbahn die größten beruflichen Erfolge feiert.

Das Examen besteht Heinrich Zahn 1949 mit Bravour - als einziger seines Semesters mit Auszeichnung. Doch dann hagelt es bei der Stellensuche Absagen. 31 Bewerbungen schreibt er und erhält 31 negative Antworten. Es ist die Zeit der Währungsreform, über Nacht ist Geld nichts mehr wert. Um sich über Wasser zu halten, nimmt er einen Job als Ausfahrer in einem großen Sanitärhandel in Aschaffenburg an. Auch da hat er Glück, er lernt seine Frau kennen. Der berufliche Aufstieg beginnt, als Heinrich Zahn sich bei der Fernseh-GmbH in Darmstadt, einem Unternehmenszweig von Bosch, bewirbt und seine erste Stelle als Ingenieur antreten kann. Bosch hat erkannt, dass Fernsehen die Technologie der Zukunft sein wird. Die Fernseh-GmbH wird zur Keimzelle der TV-Technikentwicklung in Deutschland. Heinrich Zahn wird dort Konstrukteur und wechselt später zur Bosch-Tochter "Broadcast Television Systems" (BTS).

Er bereist und arbeitet weltweit, unter anderem für Bosch und BTS in New York und Chicago. Schon in den 1960ern hält er Vorträge in Los Angeles vor der Society of Motion Picture and Television Engineers, abgekürzt SMPTE. "Ich hatte einen guten Namen", sagt er bescheiden. Eineinhalb Jahre pendelt Henry Zahn, wie die Amerikaner ihn nennen, zwischen Darmstadt und Chicago als Verkaufsleiter und Konstrukteur. In der Sprachenschule hat er sich Englisch und Französisch beigebracht. Zahn entwickelt bahnbrechende Systeme und ist Inhaber von über 30 Patenten zur Verbesserung der Fernsehtechnik. Unter anderem konstruiert er das Schnellschaltwerk, mit dem Filmbilder in einer tausendstel Sekunde weitergeschaltet werden können. Er ist auch maßgeblich an der Entwicklung eines Ein-Zoll-Magnetbandgerätes beteiligt. Für seine Verdienste um die Fernsehtechnik erhält er zahlreiche Auszeichnungen. In New York wird er beispielsweise in die Ruhmeshalle verdienter Ingenieure aufgenommen.

In seinem Flur hängt ein Bilderrahmen mit Fotos und Flugtickets aus den USA. "Ich bin zehn Mal um den Erdball gereist", erzählt er. Mit 60 geht er in Rente. "Darauf hatte ich meine Lebensplanung abgestimmt." Was nicht heißt, dass er ganz aufhört zu arbeiten. Bis 1997 engagiert er sich etwa noch in der International Electrotechnical Commission (IEC) als Chairman. Heinrich Zahn hat Standards im Video- und Audiobereich mitentworfen, die weltweit etabliert wurden.

Noch immer amüsiert ihn der Rat seines früheren Dozenten, keineswegs Konstrukteur zu werden. Heinrich Zahn hat ihn übrigens mal wiedergetroffen, bei einem Treffen des VDI Arbeitskreises der Konstruktionsingenieure. Da war Zahn schon deren Obmann, was er seinem alten Professor natürlich unter die Nase gehalten hat. "Das war schon mein ganz persönliches Triumphgefühl", lacht er.

Autorin

Astrid Ludwig
Dezember 2017