Ein Standort mit vielen Facetten

Auch Raritäten der Moderne altern, 2018 wird das frühere Vorzeigeobjekt sogar schon 50. Der Campus Dieburg ist ein architektonisches Ensemble, das nicht alle innig lieben, aber den Denkmalschutz begeistert. Eine Diva mit bröckelnder Fassade, deren Unterhalt die Hochschule Darmstadt teuer kommt.

Der zweite Standort der h_da hat viele Facetten: Der Sanierungsstau von 60 Millionen Euro ist nur eine davon. Das großzügige Areal der Medien- und Wirtschaftswissenschaftler birgt jedoch nicht nur als Hort der digitalen Welt ein längst nicht ausgeschöpftes Potenzial. Es gibt viele Ideen und Perspektiven.

Der Standort Dieburg hat schon viel Spott und Kritik aushalten müssen. Als die Bauarbeiten 1967 fast vor dem Ende standen, ließ Postrat Vogel aus Berlin kein gutes Haar an der Stadt, die der Deutschen Bundespost damals ein 235.000 Quadratmeter großes Grundstück für ihre neue Ingenieur-Akademie zur Verfügung gestellt hatte. Ein ältliches hässliches Kleinbürgermädchen sei sie, lästerte der Besucher aus der Großstadt unverschämt. Das eigentliche Objekt jedoch, die modernen, großzügigen Akademiebau- ten des Architekten- und Landschaftsplaner-Duos Herbert Rimpl und Hermann Mattern, begeisterten den Berliner. Neidvoll musste er anerkennen, dass der Campus Dieburg wohl die Berliner Ausbildungsstätte der Post in den Schatten stellen werde. Gerade diese Großzügigkeit und gute Ausstattung wiederum riefen ein paar Jahre später das Nachrichtenmagazin 'Der Spiegel' auf den Plan. Nicht Wohntürme, Disco, Schwimmbad oder Sportstätten der Anlage, sondern die 5,6 Millionen D-Mark teure Aula mit italienischem Marmor und Lüstern aus Muranoglas waren 1971 ein Dorn im Auge. Das Magazin wetterte gegen die Geldverschwendung für einen Luxusbau und ein "provinzielles Monstrum".

Die Aula mit ihren 1.200 Plätzen war damals wie heute ein Herzstück des Campus Dieburg. Seit die Hochschule Darmstadt im Jahr 2000 den ehemaligen Post- und später Telekom-Ausbildungsstandort für ihre Wirtschaftswissenschaften und zahlreichen Media-Studiengänge übernahm, haben Generationen von Studienanfängern zum Semes- terstart oder bei Vorlesungen in den türkisblauen Sesseln gesessen. Eine Bühne bietet der Saal nicht nur für die Lehre; der Vorhang hebt sich in der Aula auch für Konzerte, Comedy oder Theater. Sie ist ein Veranstaltungsmagnet in der Region. Udo Jürgens ist hier aufgetreten, Michael Mit- termeier oder internationale Schauspiel-Stars wie Sebastian Koch. Der Grimme-Preisträger etwa plauderte vor ein paar Jahren beim 'MediaMonday' mit Media-Studierenden über seine Karriere, Hollywood und die Filmwelt. Zuvor hatte er das Kino und die Tonstudios auf dem Campus besichtigt und fand die "Ausstattung großartig".

Wer den Campus und seine elf Gebäude betritt, fühlt sich in eine andere Welt versetzt. Helle, gläserne Gänge führen entlang begrünter Innenhöfe, die den Blick frei geben auf Rasen und Platanen, kleine Gärten mit Kirschbäumen, Bänken und Sitzgelegenheiten. Im Sommer ziehen Studierende und Dozenten für Seminare oder Projektarbeiten da auch schon mal ins Freie – Lehre Open Air. Die sogenannten Matternschen Gartenan- lagen des Campus sind eine Besonderheit und stehen – ähnlich wie die Gebäude – seit Jahren schon unter Denkmalschutz. Die überdachten Flure, diese Kombination aus Natur und Architektur, erinnern an klösterliche Kreuzgänge. Fremde und Erstsemester können sich hier fast verlaufen. Die Wege sind weit, so weitläufig, dass die drei Hausmeister des Standortes sie mit dem Fahrrad zurücklegen. Alle anderen müssen allerdings zu Fuß gehen.

Die Sanierungsfälle häufen sich

Harriet Reichard und ihre Kollegen von der Organisationseinheit Bau- und Liegenschaften der h_da tun das stets mit einem aufmerksamen, kritischen Blick – auch gen Fußboden. Nach einem halben Jahrhundert Nutzung haben der graugemaserte Bodenbelag und der Estrich darunter gelitten. An manchen Stellen bröselt er, muss erneuert werden, damit sich keine Stolperfallen auftun, sagt Reichard bei einem Rundgang. Die Dächer der Gebäude F 17 und F 18, in denen Vorlesungssäle und Seminarräume liegen, sind ebenfalls in die Jahre gekommen. Auch sie mussten saniert werden – für rund 900.000 Euro jeweils. Die Fälle häufen sich: In dem langgestreckten F 14-Bau wurde die Lüftung für rund eine halbe Million Euro erneuert, rund 40.000 Euro Zuschuss gab es für diese Klimaschutzmaßnahme aus Berlin. "Das Dach von F 16 macht uns aber auch Kummer", berichtet die h_da-Mitarbeiterin.

Rund 2,5 Millionen Euro investierte die Hochschule in den vergangenen drei Jahren zudem in den Brandschutz. Überalterte Toilettenanlagen, Fenster und Leitungen wurden modernisiert. Die Keller stehen ebenfalls auf der Liste der Dringlichkeiten und als nächstes sind die Aufzüge an der Reihe. Um einen genauen Kostenüberblick zu bekommen, sagt Harriet Reichard, will die Abteilung die notwendigen Sanierungsarbeiten für eines der elf Gebäude einmal exemplarisch durchrechnen. Auf rund 60 Millionen Euro beziffert Barbara Henrich, Leiterin der Organisationseinheit Bau und Liegenschaften der h_da, mittlerweile den Renovierungsstau auf dem Campus Dieburg. Dabei sind sowohl energetische Belange, als auch die des Denkmalschutzes zu beachten.

Der Campus hat ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel. Der Großteil der Bauten entstand in den Jahren 1964 bis 1971 für die Ingenieur-Akademie der Post und später Telekom. Der Bibliotheksbau kam 1995 hinzu. Als sich die eigene Fachkräfteschmiede für die Telekom nicht mehr rechnete, wurde die Liegenschaft im Jahr 2000 vom Land Hessen im Erbbaurecht übernommen. Vor nunmehr acht Jahren erwarb das Land den Campus für den symbolischen Wert von einem Euro und übergab ihn der Hochschule. Es war die Geburtsstunde des Mediencampus in Dieburg. Das Areal wurde von der Telekom aufgeteilt und die vier bis zu 18-stöckigen Wohn- türme mit rund 1.200 Zimmern, damals ebenfalls eine Besonderheit der Anlage, wurden abgerissen und seit 2012 durch private Wohnbebauung teilweise ersetzt. Das Schwimmbad wurde halbiert und wird von einem lokalen Verein genutzt.

Ein finanziell schwieriges Erbe

Heute ist der Campus nur mehr rund 4.000 Quadratmeter groß. Ein architektonisches Schmuckstück der Moderne, aber eben auch ein finanziell schwieriges Erbe, sagt Barbara Henrich. Die Hochschule

Darmstadt hat einen zweistelligen Millionenbetrag in ihren zweiten Standort investiert: Das umfasst hoch- moderne neue Ton- und Filmstudios, Game-Labore und Hightech-Ausstattung, aber eben auch Sanie- rungsfälle. Rund vier Millionen Euro flossen etwa aus dem HEUREKA-Programm des Landes von 2011 bis 2014 in die Sanierung der Mensa und die Erneuerung aller Heizungsübergabestationen. Viele Verbesserungen werden dabei gar nicht sichtbar, weil die Gel- der für den Brandschutz oder undichte Dächer aufgewendet werden. "Die meisten Investitionen gehen in den Erhalt und dienen nur der Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs", sagt Henrich. Rund 1,2 Millionen Euro hat die h_da seit 2013 jährlich in den Unterhalt investiert. Das Wissenschafts- und Finanzministerium in Wiesbaden unterstützen die h_da für den Campus Dieburg seit 2016 mit 600.000 Euro jährlich für fünf Jahre.

Das ist eine Anerkennung der besonders schutzwürdigen Architektur des Campus Dieburg. Das Gesamtensemble steht unter Denkmalschutz. Im Juni 2017 waren Experten zu Gast auf dem Campus. Ein Symposium und Workshop, veranstaltet vom Landesamt für Denkmalpflege und der Architektenkammer Hessen, befasste sich mit dem Thema

'Ungeliebte Moderne'. Mitinitiator war Prof. Kristian Kaffenberger vom Fachbereich Architektur der h_da. Er ist im Arbeitskreis Denkmalpflege der Architektenkammer aktiv und schätzt die 60er Jahre Architektur in Dieburg sehr. Das Zusammenspiel von Architektur und Außenanlagen ist einmalig, betont er.

"Die strengen Gebäudeproportionen und die konsequente Materialverwendung sind besonders prägnant. Alles ist sehr großzügig. Das war eine andere Zeit, in der man großmaßstäblicher dachte", erklärt Prof. Kaffenberger. Der Architekt weiß, dass die Unterschutzstellung dieser Bauepoche vor allem bei der Generation der heutigen Mittfünfziger auf wenig Verständnis stößt. Es ist die Architektur, mit der sie groß geworden sind – "da fehlt oft der emotionale Abstand", sagt Prof. Kaffenberger. Es brauche ein paar Jahrzehnte für die nötige Wertschätzung, die diese Campusbauten jedoch verdienten. Dass der Architekt Herbert Rimpl sich den Nationalsozialisten andiente und im Planungsstab für den Wiederaufbau arbeitete, den Albert Speer leitete, hält Prof. Kristian Kaffenberger dabei für einen zusätzlichen Aspekt, der die Denkmalwürdigkeit unter- streiche. "Wir müssen uns auch mit kritischen geschichtlichen Situationen auseinandersetzen", findet er und wirbt für die Bewahrung.

Sanierung und Lehre stehen im Konflikt

Für h_da-Bauchefin Barbara Henrich steht das außer Frage. Die Unterschutzstellung der Architektur in Dieburg sieht sie keineswegs kritisch. Künftig müssten zwar viel mehr Fragen und auch Details – von der Leuchte bis zum Bodenbelag – abgestimmt werden, "das braucht mehr Zeit, aber das müssen wir in den Prozess dann mit einplanen", sagt sie. Barbara Henrich sorgt sich mehr um die Akzeptanz der Baumaßnahmen. Die Millionen für den Bau- unterhalt bedeuten für die Studierenden und Lehren- den zunächst einmal keine spürbare Verbesserung, sondern vor allem Lärm und Unannehmlichkeiten.

"Die Bereitschaft, auf einer Baustelle zu leben, ist da geringer." Bohrarbeiten oder andere geräuschintensive Arbeiten versucht die Bauabteilung in die Pausen und vorlesungsfreien Zeiten zu legen, "doch das lässt sich nicht die ganze Zeit durchhalten", bedauert Henrich.

Sanierung und Lehre stehen im Konflikt. "Zumal in Dieburg in den Media-Studiengängen und Tonstu- dios das Gefühl und Ohr für störende Maßnahmen sicherlich ausgeprägter ist", weiß auch h_da-Kanzler Norbert Reichert. Er und Barbara Henrich bezeichnen die Umsetzung von Sanierungsarbeiten in dieser Größenordnung als Herausforderung. "Wir müssten die Gebäude eigentlich frei räumen, aber dafür haben wir zu wenig Ausweichmöglichkeiten", berichten sie. Zumal die Raumnot immer wieder Thema ist – zuletzt bei einem Strategie-Workshop mit Lehrenden im Sommer 2016.

Heute fehlt es an Raum

Konzipiert war der Campus vor 50 Jahren für rund 1.200 Studierende, heute lernen und arbeiten hier 3.116 junge Menschen in den diversen Media-Studiengängen und Wirtschaftswissenschaften. Trotz der Großzügigkeit der damaligen Planung fehlt es heute an Raum. Mit Erweiterungen durch zusätzliche Stuhlreihen in vier Seminar- und Vorlesungsräumen versucht die h_da derzeit bereits im Kleinen Abhilfe zu schaffen. Das schafft rund 80 weitere Plätze.

Ab Sommer soll auf der Rasenfläche zwischen den Gebäuden F 16 und F 17 zudem ein Teil des Containergebäudes aufgestellt werden, das bisher auf dem Campus Schöfferstraße an der Grenze zum ehemaligen Darmstädter Echo-Gelände steht. Es soll für Seminarräume dienen und von 200 bis 300 Studie- renden genutzt werden, berichten der h_da-Kanzler und die Chefin der Einheit Bau und Liegenschaften.

"Für Lehrräume sind Container eine Lösung, nicht aber für neue Speziallabore wie sie die Media-Studiengänge brauchen", weiß Kanzler Nobert Reichert und denkt dabei an Neuerungen wie Augmented Reality. Der neueste Stand der Technik sei unabdingbar, um konkurrenzfähig und auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Die Digitalisierung der Lehre müsse auch räumlich abgebildet werden. Er ist zuversichtlich, dass sich das mit dem Denkmalschutz vereinbaren lässt. "Ich sehe es als Chance, den Campus Dieburg weiter aufzuwerten", betont der Kanzler. Gleichzeitig denken er und das Präsidium jedoch über Neubauten und Erweiterungsmöglichkeiten nach für Dieburg.

Ein mögliches Neubauprojekt in Dieburg

Da kommt die Initiative von Architektur-Professor Kaffenberger und seinen Studierenden genau richtig. Rund 20 Studierende befassen sich derzeit in ihrer Bachelorabschlussarbeit mit einem möglichen Neubauprojekt in Dieburg. Bedarf dafür gibt es: Der Fachbereich Media erarbeitet einen neuen Studiengang 'Virtual Reality'. "Für den neuen Zeitgeist sollen die Studierenden eine zeitgemäße Architektur im Altbestand entwerfen", erklärt Prof. Kaffenberger. Denkmalschutz sei bei den jungen Menschen ein großes Thema. "Fast 70 Prozent der Baumaßnahmen sind heute Bauen im Bestand", so der Professor. Für den Campus Dieburg sollen dabei 15 bis 20 kreative Vorschläge für einen Neubau herausspringen.

"Das könnte als Impuls in die Diskussion einfließen." Kanzler Norbert Reichert ist auf die Ideen der Studierenden gespannt. Wo so ein Neubau stehen könnte, ist noch ungewiss. Er und auch Barbara Henrich könnten sich vorstellen, dass ein Teil des Waldgeländes, das im Norden an die Gebäude F 17 und F 18 grenzt, dem Campus zugeschlagen werden könnte. Hessen Forst unterhält dieses Areal im Auftrag der h_da. Es müsste Planungsrecht dafür geschaffen werden und das wäre Aufgabe der Kommune Dieburg. Erste vorsichtige Gespräche mit der Kommunalpolitik gibt es bereits, sagt Norbert Reichert.

Wo geht die Reise auf dem Campus Dieburg hin? Der Kanzler denkt da schon mal laut und ganz un- konventionell. Wo gibt es sinnvolle Synergie-Effekte? Möglich wäre etwa die künftige Bündelung der Wirtschaftswissenschaften am Standort Darmstadt.

Im Tausch könnten andere Fachbereiche, die Labore brauchen, die auf dem Campus Schöfferstraße wegen der enormen Verdichtung und heranrückenden Wohnbebauung nicht mehr realisiert werden können, nach Dieburg umziehen. Barbara Henrich setzt auf eine Neuauflage des Zukunfts-Workshops, der im Sommer fortgesetzt werden soll. „Wir brauchen Impulse“, sagt Reichert. Er will Dieburg attraktiver machen und auch zur Stadt hin öffnen – etwa in Form von mehr auch öffentlich zugänglichen Media-Laboren. Animation und Games, virtuelle Realität – der Campus habe viel zu bieten, findet er.

Verknüpfung von Schnellbus und Radweg

In diese Richtung stößt auch ein Projekt von Prof. Dr. Jürgen Follmann, Dekan am Fachbereich Bauingenieurwesen der h_da. Er will die Bewegungsmeile, die für Darmstadt vorgesehen ist, auch nach Dieburg ausweiten. Er plant eine ‚Rad-schnellverbindung der Wissenschaften‘ von Darmstadt nach Dieburg. Auf rund 15 Kilometer Länge könnten Wissenschaftsthemen erlebbar gemacht werden und „man wäre in rund einer halben Stunde in Dieburg. Das ist sehr attraktiv“, findet er.E-Bikes oder Pedelecs seien stark im Kommen.

Bisher würden die meisten Studierenden mit dem Auto nach Dieburg pendeln. Das erhöhe nur den Park- druck. Eine gute Lösung sei die Verknüpfung des Schnellbusses mit einem Radweg. „Wir führen mit dem Landkreis und der Politik bereits Gespräche. Die Resonanz ist sehr positiv.

“Als die vier Wohntürme noch zum Campus gehör- ten, gab es in Dieburg ein intensives Studierendenleben. Vielleicht kehrt  auch das in Zukunft zurück:  Ein neues Wohnheim direkt am Campus ist  schon von Studierenden bezogen, zwei weitere Objekte privater Investoren sind in Planung oder schon im  Bau

Autorin

Astrid Ludwig

Erschienen ist der Artikel in der Sommerausgabe 2017 der h_da-Hochschulzeitung campus_d.