Einmal die Erde von oben sehen
Marcel Kaufmann greift nach den Sternen. Der 31-Jährige, der an der h_da Optotechnik und Bildverarbeitung studiert hat, promoviert seit 2017 in Computer Engineering mit Schwerpunkt Raumfahrtrobotik an der „Polytechnique Montréal“ in Kanada und forscht als Gastwissenschaftler der NASA im berühmten „Jet Propulsion Laboratory“ in Kalifornien. Derzeit versucht er, sich seinen Kindheitstraum zu erfüllen: Er hat sich für die Astronautenausbildung bei der europäischen Raumfahrtagentur ESA beworben.
Im Kindergartenalter wollen viele Jungs Lokführer werden oder vielleicht Feuerwehrmann. Marcel Kaufmanns Ziel war immer weiter gesteckt. Sein Blick ging schon in der Grundschule zum Himmel, zum Mond und den Sternen. „Ich wollte immer Astronaut werden, einmal die Erde von oben sehen.“ Ein Kindheitstraum, an dessen Verwirklichung er konsequent gearbeitet hat und der jetzt näher rücken könnte.
Schon als Schüler gewann er einen Wettbewerb der US-amerikanischen Raumfahrtagentur NASA. Mit 17 flog Marcel Kaufmann als einer von nur zwei deutschen Teilnehmern für zwei Wochen nach Houston zur Space School. „Ein Wendepunkt in meinem Leben“, erzählt er. Von da an stand definitiv fest, dass Mond, Mars und ferne Galaxien einmal seine Berufswelt sein sollten. Kaufmann wuchs in einem 400-Einwohner-Dorf im Schwalm-Eder-Kreis auf. „Ich wollte unbedingt ins Ausland, die weite Welt sehen.“ Dieser Wunsch trieb ihn schon als Jugendlicher an. Seine Vita liest sich seither wie die eines Überfliegers. Wer heute mit Marcel Kaufmann zoomt, trifft ihn im Homeoffice im kanadischen Montréal an. An der Wand hinter ihm hängt das Bild eines farbenprächtigen Spektralnebels, darunter steht das Modell einer Saturn-V-Rakete, wie sie für die Mondlandungen benutzt wurden. An der Technischen Universität Polytechnique Montréal forscht der h_da-Alumnus seit 2017 an seiner Doktorarbeit – in Computer Engineering mit Schwerpunkt Raumfahrtrobotik.
Wegen der Vertiefung an die h_da
Studiert hat Marcel Kaufmann von 2011 bis 2016 an der Hochschule Darmstadt. Bewusst entschied er sich für den sehr spezialisierten Studiengang Optotechnik und Bildverarbeitung an der h_da, in dem er Bachelor und Master gemacht hat. Zuvor hatte er ein Maschinenbaustudium an der TU Darmstadt begonnen. Doch der dortige Automobil-Schwerpunkt sagte ihm nicht zu. „Das war nicht mein Weg.“ Er wechselte an die h_da. Das Studium in kleinen Gruppen, der enge Kontakt zu den Professoren sagte ihm mehr zu. „Meine Vertiefungsrichtung konnte ich wählen.“ Kameratechnik und Programmierung fand er spannend, vor allem die Satellitenbildverarbeitung. Die ist auf der Erde und im Weltraum einsetzbar. Bei der Überwachung etwa von Gas- und Ölpipelines am Boden oder für Klima- und Erdbeobachtungsmissionen per Satellit. Mit Programmierungen kannte sich Kaufmann bereits aus. Schon als 18-Jähriger hatte er ein kleines IT-Unternehmen gegründet, um Geld unter anderem für sein späteres Studium zu verdienen. Der Alumnus stammt aus einer Arbeiterfamilie. Er ist der erste, der studiert, eine wissenschaftliche Laufbahn einschlägt – und dann auch gleich so erfolgreich. „Meine Familie ist total stolz“, freut er sich.
Erste Stelle in den Niederlanden
Im Studium galt der junge Schwälmer als hochmotiviert. Einer seiner Professoren erinnert sich an eine gemeinsame Fahrt zu einem Kongress in Oldenburg, als ihnen während der Zugfahrt dorthin ein Messfehler auffiel. Kaufmann sei umgehend an die Hochschule zurückgefahren, habe noch am Abend neue Messungen vorgenommen, um am Morgen wieder beim Kongress zu erscheinen. Für seine Masterthesis an der h_da erhielt Kaufmann 2016 die Traumnote 1,0. Die Abschlussarbeit schrieb er in Kooperation mit der Firma Science & Technology in den Niederlanden, die auch mit der Europäischen Raumfahrtagentur ESA zusammenarbeitet. Als Software-Ingenieur blieb er anschließend in Delft. „Doch mit einem Masterabschluss war ich dort eher niedrig qualifiziert. Das hat meinen Wunsch, zu promovieren bestärkt“, erzählt er. Den hegte er schon an der h_da. „Wer in wissenschaftliche Führungspositionen strebt, braucht einen Doktortitel“, sagt Kaufmann.
Promovieren in Kanada
In Delft befasste sich Kaufmann mit Projekten rund um die Raumfahrt, Wissenschaft und Verteidigung. Über die Arbeit kam er in Kontakt mit der Technischen Universität Polytechnique Montréal und seinem heutigen Doktorvater, der ihn nach Kanada holte. Seit Herbst 2017 forscht der 31-Jährige im Bereich Computer Engineering und Raumfahrtrobotik. Seine Promotion schreibt er über symbiotische Mensch-Multiroboter-Systeme und wie sich die Mensch-Maschinen-Interaktion verbessern lässt. Kaufmann arbeitet im „Making Innovative Space Technologies Laboratory“ in Montréal, abgekürzt MIST-Lab. „Aber die deutsche Bedeutung kannte mein Doktorvater natürlich nicht“, lacht er.
Bei seiner Forschung geht es darum, dass ein Mensch gleich einen ganzen Roboter-Schwarm kontrolliert und wie sich das auf seine „mentale Arbeitsfähigkeit“ auswirkt, so Kaufmann. Ziel seiner Arbeit ist, ein autonomes System zu schaffen, das sich dem „Operator“ anpasst. Mögliche Missionsziele sind der Mond oder Mars, auf dem Roboter unwegsames Gelände und Höhlen erkunden – gelenkt von einem Kontrollzentrum am Boden oder einem Team vor Ort. Anwendbar ist diese Technik ebenso auf der Erde, etwa im Katastrophenschutz, in der Rettung und Bergung. Demnächst sollen Tests auf dem Mars-Simulationsgelände der kanadischen Raumfahrtagentur starten. Wegen Corona haben auch hier die Wissenschaftler*innen lange Zeit im Homeoffice arbeiten müssen, erzählt Kaufmann.
Kein Wort Französisch
Der Darmstädter Alumnus kam ohne französische Sprachkenntnisse nach Kanada. „Ich habe einfach den Schritt ins Unbekannte gewagt“, erzählt er. Montréal ist sehr frankophil. Im Labor wird Englisch gesprochen, das Leben an der Uni aber läuft auf Französisch ab. Er hat sich die Sprache in Teilen selbst beigebracht. „Im Alltag komme ich ganz gut klar. Lesen ist jedoch einfacher als das Sprechen“, sagt er. Seine Lateinkenntnisse halfen, einen teuren Sprachkurs konnte Kaufmann nicht zahlen. Der 31-Jährige finanziert seinen Aufenthalt durch Stipendien, derzeit hat er eins der begehrten mehrjährigen Vanier-Stipendien erhalten. Studiengebühren sind in Kanada hoch, pro Jahr etwa rund 20.000 kanadische Dollar. „Ohne diese Stipendien könnte ich es mir nicht leisten, in Kanada zu promovieren.“
Pendeln zwischen Kanada und Kalifornien
Kaufmanns Robotikforschung findet in der Wissenschaftsgemeinde Beachtung. Ein Professor des MIT wurde auf ihn aufmerksam, der in Kalifornien mit dem „Jet Propulsion Laboratory“ kooperiert. Das JPL, das auch durch die TV-Kultserie „Big Bang Theory“ bekannt ist, bat den Darmstädter Alumnus Ende 2019 um eine Bewerbung als Gastwissenschaftler. „Das war toll, aber ich musste mich dennoch mit meiner Bewerbung erst einmal durchsetzen“, erzählt er. Als die Zusage kam, war die Freude riesig. „Ich habe gedacht: Wow.“ Im März 2020 pendelte er erstmals von Kanada nach Pasadena bei Los Angeles. Im Lab arbeitet er an der künftigen Mars-Mission mit – zusammen mit NASA-Forschern sowie Wissenschaftler*innen der kanadischen und europäischen Weltraumagentur. Kaufmann forscht im Team CoSTAR für die DARPA Subterranean Challenge, einen Wettbewerb, bei dem auf das Siegerteam ein Millionenpreisgeld wartet. Das Team hat Roboter entwickelt, die Tunnel und Lava-Höhlen autonom erkunden sollen. Die sogenannten Mars-Hunde sind auf vier Beinen und mit intelligenten Sensoren in Form eines Rucksacks unterwegs. Mehrere Monate im Jahr verbringt Kaufmann in Kalifornien – wenn nicht gerade eine weltweite Pandemie das Reisen und Forschen behindert. Die letzten Monate arbeitete er vom Homeoffice aus, aber der junge Wissenschaftler hofft, bald wieder vor Ort sein zu können. Die Forschung in Kalifornien ergänzt seine Doktorarbeit in Montréal.
Kindheitstraum Astronaut
Leben und Forschen in Kanada und Kalifornien. Das sind Traumziele und es klingt, als habe er das Ziel seiner Wünsche bereits erreicht. „Ein Zwischenziel“, sagt er. Er empfindet es als große Chance, Gastwissenschaftler der NASA zu sein. Ein Gehalt bekommt er dafür jedoch nicht. Und derzeit hat Marcel Kaufmann noch ein anderes Ziel. Er hat sich bei der europäischen Raumfahrtagentur ESA im laufenden Verfahren für die Astronautenauswahl beworben. Den erforderlichen Tauchschein, eine flugärztliche Bescheinigung und die wissenschaftlichen Qualifikationen bringt er mit. Zusammen mit wahrscheinlich zehn- bis zwölftausend anderen Bewerberinnen und Bewerbern hofft er auf einen der sechs Plätze und 20 Reserveplätze, die die ESA zu vergeben hat. „Ich will Zukunftstechnologie mitentwickeln und anwenden“, sagt er. Die Raumfahrt als Astronaut kennenzulernen, wäre die noch fehlende Perspektive. Die Erfüllung seines Kindheitstraums.
Was, wenn es nicht klappt? „Man muss immer einen Plan B haben“, sagt Marcel Kaufmann. Daher kann er sich auch gut vorstellen, beispielsweise als Postdoc am Europäischen Astronautenzentrum (EAC) der ESA in Köln zu arbeiten. Doch bis zum Sommer 2022 will er erst einmal seine Doktorarbeit erfolgreich abschließen.
Autorin
Astrid Ludwig
Juli 2021