An der Hochschule Darmstadt (h_da) läuft das inzwischen dritte Semester inmitten der Corona-Pandemie. Wie geht es Lehrenden im anhaltend digitalen Hochschulalltag? Was fehlt, was kann bleiben? Beispielhaft berichten h_da-Lehrende von ihren Eindrücken.
Von Simon Colin, Redakteur Hochschulkomunikation
Wenn Brita Pyttel von ihrem Schreibtisch aus nach draußen schaut, blickt sie ins Grüne. Hühner laufen vorbei, die Vögel zwitschern, eine Idylle. Beim Blick zurück an den heimischen Monitor ist es nicht immer so farbenfroh. Viel zu oft schaut die Professorin aus dem Fachbereich Maschinenbau und Kunststofftechnik hier nämlich in schwarze Kacheln. Jene tristen, leblosen, dunklen Videokonferenz-Kacheln, die nahezu alle Lehrenden an der Hochschule Darmstadt inzwischen verfluchen. Mittlerweile wünscht sie sich in Lehrveranstaltungen ganz offensiv von ihren Studierenden, dass sie ihre Kameras anmachen. „Ein kurzes Nicken, Kopfschütteln, Schmunzeln, Gähnen oder andere Formen der Körpersprache lassen einen dann viel schneller erkennen, wie die Stimmung gerade ist und ob die Dinge angekommen sind, über die man gesprochen hat.“
Inzwischen sind immer mehr Studierende bereit, sich von daheim aus zu zeigen. Prof. Dr. Brita Pyttel beobachtet, dass sie sich hierdurch auch stärker beteiligen und insgesamt lockerer geworden sind. Die Problematik der schwarzen Kacheln und die mit ihr einhergehende fehlende Interaktion mit den Studierenden beschäftigt auch viele weitere Lehrende. „Im Hörsaal sieht man, wer mitkommt, derzeit habe ich die Sorge, dass wiederum ich nicht mitbekomme, wer sich mit den Inhalten etwas schwerer tut“, sagt Prof. Dr. Axel Wolfermann aus dem Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwesen. Damit ihm keine Studierenden verloren gehen, behilft er sich mit regelmäßigen Zwischentests, um sich einen Überblick zu verschaffen. Mehrere kleine Prüfungsleistungen sind für ihn zudem auch eine Alternative zu digitalen Open Book-Prüfungen, mit denen sich manche Studierende schwertun, wie er beobachtet.
Schwer tun sich wiederum Studierende wie Lehrende mit der anhaltenden physischen Distanz. „Auch wenn es mittlerweile das dritte Semester in Folge ist, dass ich auf Präsenzveranstaltungen gänzlich verzichte, ist es immer noch fern eines gewohnten oder auch nur ansatzweise gewünschten Normalzustandes“, sagt Prof. Dr. Stefan Schmunk, Dekan des Fachbereichs Media. Allerdings sieht er, wie auch viele weitere Lehrende, auch die Chancen, die sich aus der derzeitigen Situation ergeben. „Krisenzeiten sind immer Zeiten, in denen ungeheure Dynamiken und Innovationsschübe entstehen, Althergebrachtes in Frage gestellt wird und ein pragmatischer Zugang vorherrscht“, sagt Stefan Schmunk.
Er selbst findet inzwischen Gefallen an digitalen Lehrformen, die eine Kombination aus synchroner und asynchroner Stoffvermittlung ermöglichen, also einen Mix aus Live-Vorlesung und Aufzeichnung. „Dies ist genial, weil ich der Überzeugung bin, dass wir gerade bei diesen Lehrformaten uns jetzt schon überlegen müssen, wie wir sie in die Post-Covid19-Phase übertragen können.“ Vorteile sieht er abseits der Didaktik auch darin, dass sie zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Studium beitragen. „Nichtsdestotrotz sind wichtige Elemente eines Studiums die soziale Interaktion und das gemeinsame Lehren, Lernen und Erfahren in einem gemeinsamen physischen Raum namens Hochschule. Dies ist momentan verloren gegangen und dies können wir auch nicht durch die unterschiedlichsten digitalen Zugänge ersetzen.“
Umso mehr freut sich Schmunk über das Engagement, die Kreativität und den Ideenreichtum aller Beteiligten in den vergangenen Monaten, Probleme würden kollaborativ gelöst. Vergleichbar positiv sieht auch Prof. Dr. Heike Nettelbeck aus dem Fachbereich Wirtschaft auf ihr Arbeitsumfeld. Sie spürt einen durch die Pandemie ausgelösten Kulturwandel, auch am Fachbereich. „Weniger langwierige Abstimmungsprozesse, mehr Mut zu pragmatischen Entscheidungen. Weniger Einnehmen von formalen Rollen, mehr ´Sich-als-Mensch-Zeigen´. Weniger Selbstoptimierung und -Positionierung, mehr Lernen von- und miteinander. Das gefällt mir richtig gut und da sehe ich auch noch Ausbaupotenziale, beispielsweise in Form von kollegialer Fallberatung.“ Der offene Austausch untereinander wurde auch an anderer Stelle gestärkt, etwa durch informelle Formate wie Virtual Coffee Breaks.
Am Fachbereich habe man sich zudem früh und systematisch zu Erfahrungen ausgetauscht und zum Beispiel einheitliche Mindeststandards für die Präsenzlehre definiert, die auch praktiziert würden. In den Blick genommen wurden hierbei nicht nur Kompetenzvermittlung und Didaktik, sondern auch psychosoziale Aspekte wie Überforderung, Vereinsamung oder Zukunftsängste von Studierenden. „Zum Glück hatten wir uns schon vorher intensiv mit systemischem Coaching beschäftigt, sodass wir schnell in der Lage waren, für derartige Themen zu sensibilisieren und Unterstützungsangebote zu vermitteln.“ In ihrer digitalen Lehre tauscht sich Heike Nettelbeck mit ihren Studierenden ganz bewusst über deren Befürchtungen bezüglich der Arbeitsmarktentwicklung aus und merkt, dass die Studierenden auch die Chance nutzen, Fragen zu ihrer persönlichen Weiterentwicklung zu stellen.
Auch am Fachbereich Media tragen virtuelle Stammtische und andere Formate dazu bei, dass der Kontakt zwischen Lehrenden und auch mit Studierenden nicht abbricht. Gerade in den vergangenen Monaten bemerkt Stefan Schmunk einen verstärkten Bedarf an individuellen Gesprächen. Studierende würden unter sozialer Vereinsamung leiden, bei ihnen aber auch im Kollegium sei die Arbeitsbelastung hoch „und in Teilen bereits über dem Limit. Daher müssen Achtsamkeit und Resilienz jetzt gemeinsam verstärkt angegangen werden.“ An den Fachbereichen Media und Wirtschaft gibt es inzwischen etablierte Formate für Studierende, die Hochschule bietet entsprechende Seminare auch für alle Studierenden und Beschäftigten an.
Dieses Machenden-Gen beobachtet auch Prof. Dr. Richard Dehn, Dekan am Fachbereich Chemie- und Biotechnologie. Die durch die Krise ausgelösten Entwicklungen betrachtet er als durchaus auch segensreich. So hat der Fachbereich in ein modernes Smartboard-System investiert mit professioneller Ausrüstung für Online-Lehrveranstaltungen, die Aufzeichnung von Lerneinheiten und für Besprechungen. „Ich würde behaupten, dass es ohne Corona nicht einmal einen Konsens gegeben hätte, dass wir solche technischen Möglichkeiten überhaupt benötigen. Ein Jahr später fragen wir uns vermutlich, wie wir vorher ohne diese technische Infrastruktur überhaupt auskommen konnten.“
Viele Lehrende haben sich auf die Gegebenheiten der digitalen Semester eingelassen und profitieren nun davon. Prof. Dr. Brita Pyttel hat sich daheim im Keller inzwischen ein kleines Studio eingerichtet mit Kameras, professioneller Beleuchtung und einem Stehtisch, von dem aus sie in ihren Videos direkt zu den Studierenden spricht. Auch Prof. Dr. Axel Wolfermann setzt auf Videos, die bei seinen Studierenden gut ankommen, allerdings viel Arbeit machen. Dennoch möchte er auch nach Corona Elemente der synchronen und asynchronen Lehre mixen. Prof. Dr. Heike Nettelbeck hat sich ebenfalls durch viele digitale Formate probiert und hält ihre Vorlesungen trotz bereitgestellter Videos auch live, um den Austausch mit den Studierenden aufrechtzuerhalten. Dr. Holger Deppe, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Fachbereich Mathematik und Naturwissenschaften, nutzt das Videoangebot des Hochschulzentrums für Studienerfolg und Berufsstart und lässt seine Veranstaltungen aufzeichnen. In flankierenden Liveveranstaltungen stellen seine Studierenden dann Fragen und bearbeiten Übungsaufgaben, eine Kombination, für die sich zahlreiche h_da-Lehrende entschieden haben.
Doch klar wird eins: Die Hochschule und ihre Beschäftigten sehnen sich zurück in die Normalität mit Präsenz und persönlichen menschlichen Kontakten. „Es fehlen Räumlichkeiten, in denen man zusammenkommt, gerade für Gestalterinnen und Gestalter, die Wahrnehmungsgeschulte sind, ist das sehr wichtig“, sagt Prof. Sabine Winkler vom Fachbereich Gestaltung. Zwar beobachtet sie eine erhöhte Effizienz im digitalen Miteinander auf Distanz. „Ich bin aber der festen Überzeugung, dass wir Menschen geistige Mobilität nur mit physischer Mobilität bewerkstelligen können. Wir sind noch nicht so weit, es als Qualität anzusehen, das Haus nicht mehr verlassen zu müssen.“
Für Holger Deppe ist die oft anonyme Arbeit auf Distanz auf Dauer anstrengend und unbefriedigend. „Sie behindert den unkomplizierten Austausch massiv und zerstört die gewohnte Hochschulatmosphäre.“ Stefan Schmunk sieht das gemeinsame Lehren und Lernen an einem physischen Ort als zentrales Element von Studium und Lehre. „Sei es in Laboren, beim gemeinsamen Ausprobieren und Zusammenarbeiten, im gemeinsamen wissenschaftlichen Diskurs oder einfach nur in einem Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Das fehlt und das – so meine persönliche Lehre aus Covid-19 – ist das zentrale Element, auf das ich nicht verzichten möchte.“ Laut Richard Dehn fehlt seinem Fachbereich insbesondere „das Herz unserer Ausbildung, das Labor. Hier braucht man sich keinen Illusionen hinzugeben, das kann eine Online-Lehre niemals abfangen. In der Medizin ist das allen klar: Niemand will Chirurgen, die das Handwerk nur virtuell gelernt haben. Auch wenn es bei uns nicht so offensichtlich ist: Es ist genauso.“
Dennoch ist sich Dehn sicher, dass viel Gutes über Corona hinaus bleiben wird. Auch auf übergeordneter Ebene für einen selbst: „Diese Krise ist ein Fingerzeig, das eigene Leben in seinem Dahinjagen zu überdenken. Man kann sagen, die Krise schärft den Blick für das Wesentliche“. Ähnliches beobachtet Heike Nettelbeck. „Corona ist ein Beschleuniger für die Digitalisierung und moderne Arbeitsformen wie Homeoffice. Was ich aber noch viel wichtiger finde, ist die große Chance für eine Besinnung auf sich selbst. Ich finde, der Blick wird gerade auf eher immaterielle Werte, soziale Beziehungen und nachhaltiges, sinnerfüllendes eigenes Wirken gelenkt.“ Brita Pyttel hat sich zu solchen Fragen auch mit ihren Studierenden ausgetauscht: „Ich habe ihnen schon von Anfang an gesagt, dass sie und ich nicht aus dieser Krise rauskommen, ohne etwas Wesentliches gelernt zu haben. Etwas, was ohne Corona nie zustande gekommen wäre und was auch Studierende vor ihnen nicht gelernt haben: Mehr Flexibilität, Selbstbewusstsein, Demut und Optimismus in vielen Lebenslagen.“