„Einigkeit und Recht auf Gleichheit. Strategien gegen soziale Ungleichheiten“ – das war Titel und Thema des dritten h_da Dialog-Forums. Dazu hatten Schader-Stiftung und Hochschule Darmstadt am Mittwoch, 17. November, ins Schader-Forum in Darmstadt eingeladen. Rund 40 Gäste verfolgten Vorträge und Diskussion vor Ort, weitere 150 Menschen schauten sich den Livestream online an. Der Abend brachte ungeschönte Beschreibungen bestehender Defizite – am Ende aber auch einige Lösungsansätze.
In ihrer Einführung ordnete Sozialwissenschaftlerin Prof. Dr. Jutta Träger von der h_da die Problemstellung ein. Sie unterschied zunächst „soziale Ungleichheit“ vom bereits wertenden Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ und beschrieb, was das Entstehen sozialer Konflikte begünstigt. Der anschließende Vortrag von Prof. Dr. Harald Welzer von der FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit (Berlin) geriet zur schonungslosen Aufzählung von Fehlleistungen der Politik.
Welzer moniert unzureichende Durchlässigkeit
Harald Welzer, als Sozialpsychologe und streitbarer Publizist medial sehr gefragt, stellte eine „stabile Benachteiligung bestimmter sozialer Gruppen“ fest. „Menschen sind dauerhaft arm und finden da selten heraus. Dabei war die Idee des Sozialstaats ja, genau das zu verhindern.“ Als Beispiel für die unzureichende soziale Durchlässigkeit führte er das Bildungssystem an. Es sei skandalös, dass nach wie vor nahezu 80 Prozent der Studierenden aus Akademikerfamilien kämen.
Die Politik, so Welzer, nehme sich der ungleichen Verteilung des Wohlstands nicht an und drücke sich vor der Verantwortung, indem sie weiche Lösungen bevorzuge, wo klare Kante nötig sei. Das schlechte Corona-Management, unter dem wiederum die sozial Schwachen besonders litten, lasse das Vertrauen in den Staat insbesondere bei diesen weiter schwinden. „Was der Staat leistet, wird nicht als verlässlich und krisenkompetent erlebt.“
Verstärkt werde das durch die sozialen Medien, die es erlaubten, in Teilöffentlichkeiten alternative Fakten zu verbreiten. All das sei schlecht für das gesellschaftliche Klima, den Zusammenhalt und das Vertrauen der Menschen in das System. „Wenn ich nicht am Aufstieg partizipieren kann und dieser Staat nichts für mich tut, warum sollte ich dann loyal sein?“, beschrieb Welzer eine Einstellung, die er zunehmend beobachte.
„Ein Problem der ganz anderen Art“
Die Brisanz dieser schon seit Jahrzehnten ungelösten Probleme würde nun potenziert durch eine „hochdramatische Verquickung von sozialen und ökologischen Fragen“. Die normale politische Problemlösungsstrategie – durch Verhandeln Interessenausgleich schaffen – tauge hier nicht mehr. „Klimaerwärmung und Artensterben sind Endlichkeitsprobleme“, formulierte es Welzer. „Klima, Biosphäre oder Bienen verhandeln nicht. Das ist etwas Neues, das ist ein Problem der ganz anderen Art.“
Die Überforderung von Politik und Gesellschaft mit der Situation zeige sich in der Reaktion auf die Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli. „Der Staat schafft mit Geld kurzfristig Abhilfe. Aber nicht einmal dieses katastrophale Ereignis führt dazu, dass wir den Klimawandel als Gegenwartsproblem wahrnehmen.“ Welzer erwartet, dass die Folgen des Klimawandels zu Verteilungsproblemen von ungekannter Dramatik führen. Es könne sich bald die Frage stellen, ob wir uns notwendige Ausgaben für Soziales noch leisten können, weil wir diese Ressourcen brauchen, um schlicht unser Überleben zu sichern. Der Sozialpsychologe zeigte sich genervt von Defiziten und untauglichen Reaktionen des Sozialstaats. Hoffnung auf Besserung hege er kaum. Seine rhetorische Frage gegen Ende des Vortrags: „Wie will man eigentlich durch dieses 21. Jahrhundert kommen?“
Breit angelegte, vielstimmige Diskussion
„Ist soziale Ungleichheit nicht auch der Normalzustand in einer Gesellschaft?“, eröffnete Dr. Kirsten Mensch, Wissenschaftliche Referentin der Schader-Stiftung, die Diskussionsrunde. Sie moderierte das Podium gemeinsam mit Prof. Dr. Thomas Döring, dem Leiter des Servicezentrums Forschung und Transfer der h_da, in dem das Format h_da Dialog-Forum Anfang 2020 ins Leben gerufen wurde. Es entspann sich eine breit angelegte, vielstimmige Diskussion zwischen den Teilnehmenden des Podiums und den Gästen vor Ort, Dr. Francis Seeck, per Video aus Berlin zugeschalte*r Geschlechterforscher*in und Kulturanthropolog*in, und den rund 150 Online-Teilnehmenden.
„Ungleichheit kann die Hefe im Teig sein“, sagte Moritz Promny, Generalsekretär der FDP Hessen und deren bildungspolitischer Sprecher im Landtag. „Aber dazu müssen Chancengleichheit und Durchlässigkeit gegeben sein. Da müssen wir ansetzen.“ Bislang seien die Schwerpunkte bei den Ausgaben von Bund, Ländern und Kommunen falsch gesetzt. Mit Blick auf die anteilsmäßig hohen Ausgaben für Soziales, gab Prof. Dr. Jutta Träger zu bedenken: „Der Staat leistet ja schon recht viel, das darf man nicht vergessen.“
„Das Rentensystem wird nicht mehr funktionieren“
„Der Sozialstaat wurde so umgebaut, dass er in vielerlei Hinsicht keine auskömmliche Versorgung mehr leisten kann“, befand Prof. Dr. Anne Lenze, Sozialrechtlerin von der h_da. „Früher konnte man mit einem Einkommen eine fünfköpfige Familie finanzieren. Der heutige Mindestlohn reicht nicht mal aus, um ein Kind zu finanzieren.“ Sozialstaat bedeute inzwischen nur noch Umverteilung zwischen Normal- und Geringverdienenden. Die Reichen hätten sich daraus verabschiedet, Beamte seien ausgegliedert. „Wenn demnächst die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, wird das Rentensystem nicht mehr funktionieren.“
Dr. Francis Seeck lenkte den Fokus immer wieder auf das Thema Klassismus, die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder des sozialen Status. „Unter welchen Umständen wird man geboren? Welche Sicherheit hat man als Kind erlebt?“ – schon da nehme dieses Problem seinen Anfang. Armut wirke sich negativ auf die Lebenserwartung aus – und beeinflusse selbst das Sterben und die Art der Bestattung. Es gebe strukturelle Diskriminierung etwa von Menschen mit Behinderung, kritisierte Seeck: „In Behindertenwerkstätten wird nicht mal der Mindestlohn gezahlt! Klassismus, Rassismus und Sexismus sind miteinander verwoben.“
Game Changer bedingungsloses Grundeinkommen
„Ist das bedingungslose Grundeinkommen eine Lösung?“ – diese Frage aus dem Online-Chat schlug die Brücke in die Schlussrunde, in der es um Strategien gehen sollte. „Ich halte das für sinnvoll und vernünftig“, bezog Harald Welzer Position. Das könne Bürokratie reduzieren, Menschen von ökonomischem Druck entlasten, ihre Teilhabe verbessern und Potenziale freisetzen. „Bislang rackern wir uns ab und entschädigen uns dann durch Konsum. Da müssen wir raus!“ Das bedingungslose Grundeinkommen könne dafür ein Game Changer sein.
Anne Lenze warb für eine Bürgerversicherung, in die alle einzahlen, die also auch Wohlhabende wieder ins Boot holt. „Das wäre auch eine Vision, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken könne“, sagte sie. Lenze forderte außerdem eine Kindergrundsicherung, die auch armen Kindern zugutekommt. Moritz Promny sah nicht die Umverteilung als Schlüssel, sondern den richtigen und zielgerichteten Einsatz der Mittel. „Was ist denn vom Digitalpakt beim einzelnen Schüler angekommen?“, fragte er. Ressourcen müssten bürokratiearm und effizient dort ankommen, wo sie benötigt würden. Dabei müsse es mehr Vertrauen in die einzelnen Institutionen geben. Auch Jutta Träger warb für einen spezifischeren Einsatz von Mitteln, der sich an konkreten Bedarfen orientiere.
Und Harald Welzer? Der kokettierte angesichts seines übergreifenden Ansatzes damit, eigentlich eine „Fehlbesetzung“ für das Thema des Abends zu sein. Allerdings zeigte er Sympathie für Vermögens-, Erbschafts- und Finanztransaktionssteuer. Und zum Schluss brachte er eine Idee ein, die durchaus eine Prüfung wert sein könnte: „Wir haben in Deutschland rund 100 Milliarden Euro an nicht abgerufenen Förderungen. Das Geld könnte man in defizitäre Versorgungen und Bildungsbereiche stecken.“
Daniel Timme
19. November 2021
Video-Mitschnitt der Veranstaltung (Youtube)