Seit gut drei Jahren betreiben Joana Schönborn, Sina Wans (beide 29) und Lina Ebbinghaus (43) in Darmstadt die Unternehmensberatung „Sustainable Thinking“. Ihre Mission: Dynamik in die Transformation von Unternehmen zu nachhaltigem, zukunftsfähigem Handeln bringen. Die drei h_da-Absolventinnen managen Risiken, zeigen Chancen und mögliche Wettbewerbsvorteile auf. Als junge Gründerinnen sagen Joana Schönborn und Sina Wans: Man muss die Überforderung mögen – und darauf achten, die Arbeit einzugrenzen.
Frau Schönborn, Frau Wans, im Erststudium haben Sie sich Bauwesen und Bekleidung gewidmet. Ab wann hatten Sie das Thema Nachhaltigkeit auf dem Schirm?
Sina Wans (SW): Ich habe zunächst meinen Bachelor in International Fashion Retail in Reutlingen gemacht. Da stand für mich schnell fest, dass die Textilindustrie dringend Veränderung braucht, weil sie so große negative Auswirkungen auf Mensch und Umwelt hat. Von einem Professor kam der Impuls, Richtung nachhaltige Textilindustrie zu gehen.
Joana Schönborn (JS): Bei mir ist Nachhaltigkeit im Bauingenieur-Studium in Wiesbaden inhaltlich gar nicht aufgetaucht. Aber ich kam im Privaten mit den Themen Einkaufsverhalten und Lebensmittel in Berührung. Meine Situation nach dem Berufseinstieg fand ich unbefriedigend und habe mich gefragt, wie ich mich mehr in Richtung nachhaltige Entwicklung entwickeln könnte.
Wie fanden Sie zum Studiengang RASUM (siehe auch Infobox)?
JS: Ich hatte mich im Oktober 2015 schon für das Masterstudium Bauingenieurwesen an der h_da eingeschrieben. Parallel habe ich aber online nach einem strategisch angelegten Masterstudiengang gesucht – und bin auf RASUM gestoßen. Am selben Tag kam ich auf dem Flur zufällig mit Sina ins Gespräch und habe sie gefragt, was sie studiert. Sie war total überrascht, dass ich mit RASUM etwas anfangen konnte.
SW: Und dann haben wir Joana überzeugt, sich noch einzuschreiben. Damit waren wir acht Studierende im Pionierstudiengang. Martin Führ hatte damals ein Forschungsprojekt zu nachhaltigen Textilien und Chemikalien. Das hat für mich perfekt gepasst.
Hat das Studium Ihre Erwartungen erfüllt?
JS: Am Anfang hatte ich das Gefühl, zu wenig Futter zum Auswendiglernen zu kriegen – weil ich das nur so kannte. Stattdessen haben wir gelernt, selbstständig zu arbeiten, uns an neue Sachverhalte heranzutrauen und sie aus einer systemischen Perspektive zu betrachten.
SW: Das ist sehr gut an RASUM. Der Fokus liegt nicht darauf, einen Nachhaltigkeitsbericht zu schreiben oder ein Nachhaltigkeitsmanagement aufzusetzen. Das ist Wissen, das man sich immer noch selbst aneignen kann – wie wir es heute ja alle ständig tun. Aber Auswendiglernen gibt dir nicht das Rüstzeug, um die Transformation von Unternehmen in Richtung Nachhaltigkeit zu unterstützen.
Sie waren offenbar überzeugt davon, dieses Rüstzeug zu haben. Oder wie kam es, dass Sie noch vor dem Master „Sustainable Thinking“ gegründet haben?
JS: Wir hatten im Studium viele Praxisprojekte. Dabei haben wir oft gemeinsam mit Lina Ebbinghaus, Jana Kutschmann und Robin Weyrich gearbeitet. Das hat super funktioniert und großen Spaß gemacht.
SW: Wir wollten in diesem Team weiterarbeiten. Da war es einfach naheliegend zu gründen.
JS: In unseren Projekten haben wir gemerkt, dass die Nachhaltigkeitsabteilungen in Unternehmen oft nur sehr begrenzten Einfluss haben. Dieser Hebel erschien uns nicht ausreichend für wirkliche Veränderungen.
SW: Nachhaltigkeitsmanager*innen in Unternehmen werden noch zu selten in strategische Entscheidungen eingebunden. Aber um Unternehmen nachhaltig aufzustellen, braucht es unbedingt strategische Entscheidungsmacht. Mit dieser gemeinsamen Motivation haben wir Ende 2017 Sustainable Thinking gegründet. Zusammen mit Freunden gründen – das klingt romantisch. Aber wir fünf wussten aus den Projekten, wie wir ticken und arbeiten, welche Fähigkeiten wir haben. Wir wussten, worauf wir uns einlassen. Die menschliche und die fachliche Chemie stimmt – das zeichnet uns aus.
Der Masterstudiengang „Risk Assessment and Sustainability Management (RASUM)" wurde erstmals im Wintersemester 2015/16 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Hochschule Darmstadt angeboten. Der viersemestrige Studiengang – übersetzt: Risiko-Abschätzung und Nachhaltigkeitsmanagement – will Studierenden die Fähigkeit vermitteln, Risiken und Chancen abzuschätzen, die sich aus den notwendigen Veränderungen in Richtung einer Nachhaltigen Entwicklung ergeben. Damit werden die RASUM-Absolvent*innen insbesondere für Unternehmen, die entsprechende Veränderungsprozesse einleiten und ein Nachhaltigkeitsmanagement implementieren wollen, zu wichtigen Berater*innen.
Die Studierenden eignen sich strategische und analytische Fähigkeiten an, die ihnen helfen, Systemgrenzen zu überschreiten. In die ganzheitliche Betrachtung von Sachverhalten fließen betriebswirtschaftliche, sozialpsychologische, gesellschaftliche, organisationale und technisch-naturwissenschaftliche Perspektiven und Aspekte ein. Kernstück des Studiums ist das transdisziplinäre Projektstudium (Praxisprojekt), bei dem die Studierenden in enger Zusammenarbeit mit Akteuren aus der Praxis konkrete Problemstellungen aus dem Unternehmensalltag bearbeiten.
Die zweijährige Konzeptionsphase des Studiengangs wurde aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziell unterstützt. Dabei hatten Vertreter*innen aus Unternehmen und anderen Organisationen gemeinsam mit Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen das in der deutschen Hochschullandschaft einmalige Konzept entwickelt. Es wurde bereits 2014 als offizielles Projekt der Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) von der Deutschen UNESCO-Kommission ausgezeichnet.
Trotzdem sind Sie inzwischen nur noch zu dritt …
JS: Robin Weyrich ist nach seiner Masterarbeit in ein Vollzeit-Angestelltenverhältnis gewechselt, deshalb hat er 2018 aufgehört. Jana Kutschmann ist Ende 2020 ausgestiegen, weil es sie eher in die Lehre zieht. Das Feld bilden wir bislang nicht ab. Aber wir haben uns jeweils absolut im Guten getrennt. Jetzt arbeiten wir als Dreierteam weiter.
SW: Gründen ist auch eine große Reise der Selbstfindung. Wir haben uns viel Zeit genommen, um zu beantworten: Wer sind wir? Was können wir? Was wollen wir? Es ist ja ganz anders, als einen Job anzunehmen, wo einem der Vorgesetzte sagt, was man tun und lassen soll. Als Gründer hat man kaum Fixpunkte, aber eine krasse Lernkurve. Man macht Fehler, muss sich Know-how aneignen. Man ist eigentlich konstant überfordert – das muss man schon mögen. (lacht) Aber heute wissen wir viel genauer, was wir wollen und können.
Welche Leistungen bieten Sie an?
SW: Wir sind Expertinnen für Risiko- und Nachhaltigkeitsmanagement und unterstützen Unternehmer*innen darin, zukunftsfähig zu werden. Unsere drei Handlungsfelder sind: Klimarisiken und -management, nachhaltige Lieferketten und Circular Economy.
JS: Klima- und Lieferkettenthemen sind jetzt schon stark nachgefragt. Kreislaufwirtschaft ist ein Next-Level-Thema: Das stellt sich, wenn man die beiden anderen schon bearbeitet hat.
SW: Unser USP ist ein neuer Beratungsansatz. Den haben wir aus unserem eigenen Anspruch heraus entwickelt, die nachhaltige Transformation der Wirtschaft zu beschleunigen. Alleine durch 1:1-Beratung kommt man nicht schnell genug voran. Deswegen bringen wir Unternehmen in „Thinking Circles“ als Peer-to-Peer-Lerngemeinschaften zusammen. Das ist sehr wirksam, ein starker Hebel!
Also eine Art Netzwerk?
SW: Nein, Netzwerke gibt es schon viele und die bleiben oft wirkungslos. Die Thinking Circles sind richtige Gemeinschaften. Da entwickeln fünf bis sieben Unternehmen bis zu einem Jahr lang gemeinsam Klimastrategien oder bauen nachhaltige Lieferketten auf. Die Erfahrungen der Unternehmen bringen wir mit unserem fachlichen Input zusammen. Wir organisieren die Termine, bereiten alles vor und nach.
Wer sind Ihre Kunden?
JS: Wir sind branchenübergreifend und bundesweit tätig. Unser kleinster Kunde hatte zehn Mitarbeiter*innen, der bislang größte 16.000.
SW: Unsere Kunden sind hauptsächlich mittelständische Unternehmer*innen, die erkannt haben, dass Kooperation bei Nachhaltigkeitsfragen das A und O ist und nachhaltiges Handeln ihnen einen Wettbewerbsvorteil gibt. Sie haben wie wir das Ziel, dabei schneller voranzukommen. In den Thinking Circles kommen keine direkten Wettbewerber zusammen, aber Unternehmen, die ähnliche Herausforderungen haben. Vertrauen, Transparenz und Kooperationsfähigkeit sind entscheidende Voraussetzungen.
Wie lassen Sie sich honorieren?
SW: Die Unternehmen zahlen je nach Größe einen individuell bemessenen Monatsbeitrag. Das ist ein inklusives und solidarisches Konzept, das aus dem gemeinschaftsbasierten Wirtschaften stammt. Es ist für alle komplett transparent – und funktioniert sehr gut.
Hat Corona Ihr Geschäft verändert?
SW: Die Pandemie hat uns alle zum Innehalten gezwungen. Sie hat auch im beruflichen Kontext das Hinterfragen befeuert.
JS: Die Krise hat gezeigt, dass Umdenken möglich ist – zum Beispiel Videokonferenzen statt Präsenztermine. Sie hat uns sogar gezeigt, dass wir alle zu schnellen Veränderungen in der Lage sind. Wir hoffen, dass dieser Optimismus und Veränderungswille sich auf Nachhaltigkeitsthemen überträgt und dauerhaft Früchte trägt.
Wie steht es denn aktuell bei den Akteuren in Politik und Wirtschaft um das Bewusstsein für Klimawandel, Ressourcen, Nachhaltigkeit?
JS: Wir haben den Eindruck, dass es 2020 in der Politik in diesen Fragen endlich mehr Ernsthaftigkeit gab. Es wurden Gesetze verabschiedet, die auch etwas bewirken können. Das Thema hat neuen Drive bekommen, weil die Finanzindustrie erkannt hat, wie viel finanziellen Schaden es verursacht, wenn wir jetzt nicht handeln. Die Kapitalgeber fordern von den Unternehmen Transparenz. Und die EU fordert in der Taxonomie-Verordnung den Nachweis ökologischer Nachhaltigkeit von Investitionen. Beides baut einen enormen Druck auf Unternehmen auf. Nachhaltige Finanzströme sind ein riesiger Hebel für Veränderungen.
SW: Compliance-Anforderungen und Erwartungen der Kapitalgeber sind das, was von außen auf Unternehmen wirkt. Aber auch was in vielen Unternehmen gerade passiert, ist unglaublich spannend. Viele haben verstanden, dass sie sich dem Thema Nachhaltigkeit stellen müssen. Die Frage ist jetzt: Wer sind die Gewinner, die die Chancen nutzen und wer die Verhinderer, die dann im Wettbewerb verlieren? Nachhaltigkeitsthemen bergen immer große Risiken, wenn man nichts tut. Aber eben auch riesige Chancen: wenn man Lösungen findet und sich so zum Beispiel klar als nachhaltigster Anbieter seiner Branche positioniert. Die Unternehmen erkennen zunehmend diese Chancen in nachhaltigem Wirtschaften. Wobei das deutsche Unternehmertum leider traditionell sehr konservativ ist.
JS: In den Niederlanden oder Skandinavien haben Unternehmen früher verstanden, dass nachhaltiges Handeln sie zukunftsfähig und erfolgreicher macht.
Sie sind beide erst knapp 30, beraten aber Unternehmer*innen hinsichtlich strategischer Entscheidungen. Erleben Sie deswegen Vorbehalte?
SW: Nein, überhaupt nicht. Unsere Kundinnen und Kunden begegnen uns immer auf Augenhöhe. Wir arbeiten mit tollen Menschen zusammen. Wenn es bisher einmal nicht gepasst hat, war das rein fachlich begründet. Alter oder Geschlecht sind dabei kein Hemmnis.
Was sind mittelfristig Ihre beruflichen Ziele?
JS: Auf jeden Fall weiterhin Dynamik erzeugen! Und als Team nur wachsen, soweit es für unsere Sache hilfreich ist. Außerdem ist es unser großes gemeinsames Ziel, dass unsere berufliche Selbstverwirklichung immer mit der privaten Entwicklung vereinbar bleibt.
SW: Wir lieben, was wir tun und wir mögen das Miteinander sehr. Aber keine von uns ist ein Workaholic. Wir achten auf uns und aufeinander und ziehen klare Grenzen: Wir machen Urlaub und arbeiten nicht am Wochenende. Wir wollen als Team weiter tun, was wir können, um die Wirtschaft nachhaltiger zu machen und unsere Lebenszeit gut investieren.
Daniel Timme
März 2021