Christina Stappen studierte Soziale Arbeit an der h_da. 2017 gewann sie den Henriette-Fürth-Preis 2017 für ihre Bachelorarbeit zum Thema Genderkompetenz in der Mädchenarbeit und ist seit 2018 Mitarbeiterin der AIDS-Hilfe Darmstadt e.V. In ihrem Studium hat sie die Verankerung von Ungleichheit in der Gesellschaft erkannt, im Beruf erlebt sie, dass „selber schuld“ kein Argument und politisch das falsche Signal ist.
Als Christina Stappen in ihrer Grundschulzeit einmal in den Ranzen eines Mitschülers blickte und ein großes Chaos vorfand, irritierte sie das außerordentlich. Sie hatte gelernt, ihren Ranzen anständig zu packen, darauf wurde zu Hause geachtet. Irgendwie zeigte ihr diese Unordnung mehr als nur eine Nachlässigkeit, da war ein wesentlicher Unterschied, nur benennen konnte das Mädchen ihn noch nicht. „Es gab viele solcher Momente, aber der Ranzen war so etwas wie ein Schlüsselerlebnis“, erinnert sie sich. Schon früh nahm sie soziale Ungleichheit wahr mit allen Folgen von ungleicher Behandlung, in der Schule durch Lehrer und später im Beruf noch viel differenzierter. So stand für sie früh fest, dass sie im Bereich Soziales arbeiten wollte.
Erst einmal ging es aber in eine andere Richtung. Selbst aus einer Arbeiterfamilie kommend, war ein Studium nach dem Abitur alles andere als selbstverständlich, sie machte eine Lehre im Einzelhandel in Düsseldorf und war nach einer Weiterbildung bald Abteilungsleiterin, wenig später mit personeller Verantwortung. Mitte Zwanzig schon so erfolgreich: Das bedeutete Stress und die jähe Einsicht, dass diese Entwicklung definitiv nicht das war, was sie wollte. Also kündigte Christina Stappen den Job und die Wohnung und schrieb sich in Darmstadt an der Hochschule im Fachbereich Soziale Arbeit ein. Ihr gefiel der Studiengang an der h_da, außerdem hatte sie hier Freunde. Sie wollte „nah am Menschen“ tätig sein, sie dachte daran, beruflich in Richtung Streetwork zu gehen. „Das hat sich im Laufe des Studiums etwas verschoben, ich wollte mich auch nachhaltig politisch für Benachteiligte einsetzen.“
An der Hochschule engagierte sie sich im AStA, in der Senatskommission für Gleichstellung und im Studierendenparlament, im AStA war sie viele Jahre Frauenreferentin, „als glühende Feministin“, sagt sie und lacht. „Meine eigene Biografie wäre anders verlaufen, wenn ich ein Mann gewesen wäre“, als Kauffrau im Beruf und an der Hochschule. Dort erlebte sie Ungleichheit bis hin zu deutlichen sexistischen Übergriffen. „Noch sind wir von einer Gleichstellung weit entfernt, aber ich versuche, mit Herzblut dazu beizutragen, dass sich das ändert.“
2017 erhielt Christina Stappen den Henriette-Fürth-Preis des Gender- und Frauenforschungszentrums der Hessischen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (gFFZ) für ihre Bachelor-Thesis zum Thema „Die Notwendigkeit von Genderkompetenz in der sozialpädagogischen Mädchenarbeit.“ In einem Anerkennungsjahr im Jugendamt lernte sie die Strukturen in der Behörde kennen und weiß seitdem, welche Genehmigungsprozesse in Ämtern durchlaufen werden müssen, bis gehandelt werden kann.
Bei der AIDS-Hilfe Darmstadt e.V. gestaltet sich ihr Arbeitsumfeld ganz anders. Innerhalb ihrer Tätigkeitsbereiche Beratung, betreutes Wohnen und Präventionsarbeit verfügt sie über einen hohen Grad an Selbständigkeit. Schnelle Absprachen mit ihren Kolleginnen Dr. Yvonne Bach, Geschäftsführerin des Vereins, und Patricia Wagner machen ein effizientes Arbeiten möglich. „Wir müssen oft sofort handeln“, berichtet Stappen, „Kinder müssen untergebracht werden, weil die Mutter plötzlich ins Krankenhaus muss, wir haben mit Schulden, psychischen Erkrankungen, Geflüchteten, Arbeits- und Wohnungslosigkeit zu tun, mit queeren Themen, mit Drogensucht, Todesängsten und Sterbebegleitung. Eine geplante Weiterbildung platzte einmal, weil ich den ganzen Tag über als Betreuerin in der Notaufnahme saß.“ Acht Klientinnen und Klienten hat sie fest im betreuten Wohnen, hinzu kommen Menschen, die sie lose begleitet, viele von ihnen haben Migrationshintergrund. So kommen Abschiebung, Flucht, sexualisierte Gewalt und Kriegstraumata zum Themenspektrum hinzu, mit dem sie sich als fest angestellte Sozialarbeiterin befasst.
Die Menschen, die sich an den Verein wenden, haben alle bewegende Biografien, sie bringen Geschichten mit, die nahe gehen. Eine Kollegin begleitete eine Klientin über Jahrzehnte, war bei einer Geburt dabei, da stellt sich schon die Frage: Wie viel gebe ich von mir? Auch Christina Stappen musste professionelle Distanz im Berufsalltag erst lernen. „Aber ich wurde vom Team toll aufgenommen“, hinzu kommt eine gute Supervision, das helfe, die Grenze zwischen Nähe und persönlichem Abstand auszuloten.
Da ist sie, die Arbeit „ganz nah am Menschen“, die Christina Stappen sich gewünscht hatte. Positiv empfindet sie dabei die Jahre, die sie sehr jungen Studierenden voraus hat. Die psychosoziale Ebene sei zwar auch Gegenstand des Studiums, aber hier greife eben doch Erfahrung und so etwas wie „Persönlichkeit“. Eine Praxisphase und zwei Praktika sind im Rahmen des Studiums verpflichtend, „die Praxisnähe könnte aber noch erweitert werden“, findet sie. Hilfreich ist zudem ihr weiter Fokus und ihr Interesse an theoretischen Fragen: Wie funktioniert unsere Gesellschaft? Profitiert habe sie von Seminaren, in denen es etwa um Soziologie ging, um pädagogische, rechtliche oder sozial-gesellschaftliche Belange und Strukturen, „denn dies alles spielt in unsere Arbeit mit rein. Hier geht nichts nach Schema F.“ Es ist das gesamte Lebensumfeld, das Menschen individuell präge, Schuldzuweisungen seien der falsche Weg im Umgang mit Hilfesuchenden. Viel zu schnell würde stigmatisiert und ein moralisches Urteil gefällt, gerade bei HIV-Erkrankten. „Wir als Beratende und Betreuende haben ihnen gegenüber unbedingt eine akzeptierende Haltung.“
Als Netzwerkerin und politische Lobbyistin will sie mehr als nur direkt helfen, hierbei wirkt sich ihr Einsatz in den politischen Gremien an der Hochschule aus: Christina Stappen ist enorm reflektiert, sie ist sprachgewandt, sie hat gelernt, ihre Standpunkte zu vertreten, hält Vorträge in Schulen und vor anderen Gruppen. Und sie hat sich rechtzeitig von den pubertären Träumen, die Welt retten zu wollen, verabschiedet. „Soziale Ungerechtigkeit ist kein individuelles Versagen“, davon ist sie überzeugt, „es sind vielmehr die Gesellschaft und die in ihr gelebten Werte, die die Voraussetzungen für Ungleichheit schaffen, eine Gesellschaft, die zwischen Gewinnern und Verlierern unterscheidet.“
Bettina Bergstedt
Januar 2020