Niemals aufgeben

h_da-Alumni Nicolas Schumann lernt trotz unheilbarer Muskelkrankheit bereits für seinen zweiten Studienabschluss

Seit dem neunten Geburtstag sitzt er im Rollstuhl. Heute, mit 27 Jahren, kann er fast nur noch Kopf und Augen bewegen. Nicolas Schumann leidet an der Erbkrankheit Muskeldystrophie Duchenne. Seiner Lebenslust hat die tödliche Krankheit nichts anhaben können. An der Hochschule Darmstadt (h_da) hat er einen Abschluss in Digital Media gemacht und schreibt an der Frankfurter Goethe-Uni nun an der Bachelorarbeit für seinen zweiten Studienabschluss in Theater-, Film- und Medienwissenschaften. Er hat auch ein Buch über sein Leben geschrieben.

Am meisten hasst Nico es, wenn ihn die Leute für geistig behindert halten. „Wenn sie mit meinem Betreuer oder meinen Freunden über mich sprechen statt mit mir. Das nervt“, sagt er. Nicolas ist mit Gurten im Rollstuhl festgeschnallt. Seinen Körper kann er schon seit Kindertagen nur noch dank zweier Titanschienen rechts und links der Wirbelsäule aufrecht halten. Früher konnte er den Elektro-Rollstuhl selbst mit der Hand lenken, aber nachdem die Muskelkraft in den Fingern schwand, ging das nicht mehr. Auch die Kinnsteuerung, die er später einbauen ließ, ist heute zu anstrengend geworden. Muskeldystrophie Duchenne ist eine gnadenlose Krankheit, die langsam alle Muskeln zerstört. Meistens schieben ihn seine Freunde im Rolli, wenn sie gemeinsam auf Tour gehen. Oft werden sie dabei von Passanten angesprochen. „Wie nett das sei, dass wir unseren behinderten Freund mitnehmen“, erzählt sein Freund Bao. „Dabei nimmt Nico uns mit“, lacht er. „Die meiste Zeit organisiert er all unsere Unternehmungen.“ Auf dem Campus der Hochschule Darmstadt in Dieburg oder in Vorlesungen an der Goethe-Uni passierte Nico so etwas nicht. „Da wurde ich als Student gesehen und keiner kam auf die Idee, dass ich geistig nicht fit bin“, sagt er.

Er selbst hat sich nie als behindert wahrgenommen, war auf keiner Förderschule und „auch alle meine Freunde sind nicht behindert“, erzählt er. Die Muskelkrankheit kam schleichend. Als Kind konnte er anfangs noch laufen, Fußball spielen, schwimmen oder essen. Er war auf Klassenfahrten dabei und hat in einer Band gespielt. Mit Hilfe seiner unermüdlichen Eltern und Freunde presst er bis heute jedes noch so kleine Bisschen Selbstständigkeit und Normalität aus dem Leben heraus, solange es geht. Dazu gehört auch das Studium: An der Hochschule Darmstadt (h_da) hat er einen Bachelor in Digital Media gemacht.  „Das Fach war mein Favorit, das liegt an meiner musikalischen Vergangenheit“, erzählt er. Schon das Abi schloss er mit guten Noten ab und schaffte auch die Aufnahmeprüfung für die h_da spielend. „Obwohl mir vorher zugesichert worden war, dass ich mehr Zeit für mein Studium in Anspruch nehmen könne, beendete ich es in der Regelzeit von sechs Semestern“, berichtet er stolz.  Nico bedauert, dass er nicht so richtig Anschluss fand an seine Kommilitonen. Nur mit ein oder zwei Leuten hatte er näheren Kontakt: „Vielleicht lag es an meiner zurückhaltenden Art oder auch, weil ich weiter weg wohnte.“ Jeden Tag war er mit einem speziellen Fahrdient mehrere  Stunden unterwegs.

Die Bachelorarbeit diktierte er seinen Betreuern

Da er technische Geräte während seiner Zeit an der h_da nicht bedienen konnte, konzentrierte sich Nico auf andere Aufgabe wie das Schreiben von Skripten. Trotz dieser Schwierigkeiten erzielte er gute Noten. „Ich habe mir die Dinge herausgesucht, die für mich machbar waren“, sagt er. Für seine Bachelorarbeit  wählte er ein theoretisches Thema und nicht wie die meisten Kommilitonen ein praktisches Projekt. „Ich untersuchte die Qualität von Songtexten in der populären Musik.“ Seine Bachelorarbeit diktierte er seinen Helfern, die nach seinen Anweisungen arbeiteten. Etwas mehr als drei Monate brauchte er dafür, alle drei Wochen traf er sich zudem zu einer Besprechung mit seiner Professorin. „Mündlich und schriftlich bekam ich eine 1.0 für die Arbeit“, freut er sich.

Er lebt im Studentenwohnheim

Derzeit schreibt er erneut an einer Bachelorarbeit. An der Frankfurter Goethe-Uni studiert Nico Theater-, Film- und Medienwissenschaften und im Nebenfach Soziologie. Anders als in Dieburg wohnt er hier direkt auf dem Campus Westend, in einem Zimmer des evangelischen Studentenwohnheimes. „Ich habe mir immer eine eigene Wohnung gewünscht. Schon als Kind war für mich klar, dass ich früh ausziehen, in einer WG mit meinen Freunden wohnen wollte.“ Viele Stunden verbringt Nico in seinem Bett, das sich elektrisch verstellen lässt. Über einen Tropf läuft Flüssignahrung in seine Magensonde. Seit er 15 ist, wird Nico künstlich ernährt. Er wiegt weniger als 37 Kilo. Nachts muss er künstlich beatmet werden. Vom Bett aus kann er am besten lesen und arbeiten. Er schreibt an einem PC mit Augensteuerung oder diktiert seinen Betreuern Texte.

Zeitlebens war er nie allein. Auch im Studentenwohnheim oder Hörsaal braucht er eine 24-Stunden–Betreuung. Viel Kontakt zu Kommilitonen hat Nico daher auch hier nicht. „Das liegt daran, dass ich an der Uni nie alleine, sondern immer zu zweit auftauche.“ Das hält vielleicht den ein oder anderen ab. „Die meisten Studenten und Professoren behandeln mich aber ganz normal.“ Seine Prüfungen schreibt er in separaten Räumen – „weil ich meine Arbeit ja diktieren muss“.

Ungewöhnliche Freundschaften

Doch Nicos Leben wird nicht nur von einer heimtückischen Krankheit bestimmt, sondern auch von ungewöhnlichen Freundschaften. Es sind seine sechs Freunde, die ihn rund um die Uhr betreuen, mit ihm in Urlaube bis nach Jamaika fliegen, in die Vorlesungen gehen, mit ihm Hausarbeiten schreiben, ihn duschen oder auf Toilette bringen. „Meine Eltern und meine Freunde - ohne sie würde mein Leben sehr viel unglücklicher aussehen“, sagt Nico. Vor einiger Zeit hat er den Film „Ziemlich beste Freunde“ im Kino gesehen, einen französischen Blockbuster über einen reichen Mann im Rollstuhl und seinen Pfleger aus einer afrikanischen Migrantenfamilie. „Viele Szenen kamen mir bekannt vor. Nur dass ich nicht reich bin und leider keinen Maserati fahre.“ Manches sei zu positiv dargestellt gewesen, findet er.

Nach seiner Bachelorarbeit würde er gerne als Filmkritiker arbeiten. Ein Praktikum beim Rundfunk hat er schon gemacht. „Doch acht Stunden am Tag arbeiten, ist unrealistisch für mich.“ Obwohl er sagt, dass er sein Leben trotz Behinderung bisher ausreichend genossen hat, gibt es genug deprimierende Momente, in denen es schwer ist „diese beschissene Krankheit“ zu ertragen, schreibt er in dem kleinen Buch, das er über sein Leben verfasst hat. „Lies mal, was er schon alles kann“ heißt seine Autobiographie, die er im Selbstverlag herausgebracht hat.

Nico wird nicht alt werden. Er fühlt sich unter Zeitdruck, will noch möglichst viel erleben. Er gibt nicht auf, doch manchmal wünscht er sich, er könnte das Leben als „normaler“ Mensch noch einmal leben – „um alle unerfüllten Träume und Möglichkeiten ergründen zu können“.

Autorin

Astrid Ludwig