Herr Finas, Herr Niemann, Herr Ripper mit Plakaten des AStA

Kontroverse Aktionen und kämpferisches Engangement

Wohnungssuche, Studienbedingungen, Finanzierungsfragen: Themen, die Studierende heute wie zur Gründungszeit der Hochschule Darmstadt vor 40 Jahren bewegen. Im AStA oder in einzelnen Gruppen engagierte Kommilitoninnen und Kommilitonen hatten sich in allen Hochschulphasen dafür eingesetzt, dass die Sorgen, Hoffnungen und Forderungen der Studierenden Gehör finden. Mit drei dieser Menschen hat sich die campus_d-Redaktion auf eine Zeitreise begeben: Manfred Niemann (65) gehörte dem ersten AStA der Hochschule Darmstadt an und erlebte die Gründung der FH 1971 hautnah mit. Antonio Finas (46) studierte um 1990 an der Hochschule und initiierte das bundesweit erste Semesterticket. Bis vor sechs Jahren studierte Bastian Ripper (36) an der h_da. Er war engagiert im AStA und brachte das deutschlandweit erste Theaterticket auf den Weg. Einen ganzen Vormittag lang nahmen sich die drei Ehemaligen in den neuen Räumen des AStA der Hochschule Darmstadt im Hochhaus auf dem Campus Darmstadt Zeit dafür, ihre Erinnerungen an ihr Studium an der Hochschule Darmstadt wieder aufleben zu lassen.

Wir sind hier zu Gast in den frisch sanierten AStA-Räumen der Hochschule Darmstadt. Erinnern Sie sich noch daran, wo sich die allerersten AStA-Räume befanden, Herr Niemann?

Manfred Niemann: Im fünften Stock hier im Hochhaus auf der Südseite. Vor der Gründung der Fachhochschule gab es sogar sieben verschiedene AStA-Räume. Die von der Maschinenbauschule waren hier, das wurden dann auch die AStA-Räume der Fachhochschule. Die anderen waren bei den Vorgänger­einrichtungen untergebracht. Sie wurden nach der FH-Gründung in Fachschaftsräume umgewandelt.

Herr Finas, wir rücken etwas mehr als 20 Jahre nach vorne. Wo war der AStA um 1990 beheimatet?

Antonio Finas: Hier drüben im Atrium neben dem Hochhaus. Direkt am Eingang rechts in den beiden ersten Räumen. Es war furchtbar beengt, es war verqualmt, es war die Zeit, in der man noch rauchen durfte und das auch getan hat. Und es wurde ordentlich Kaffee konsumiert. Es war ein totales Chaos, daran erinnere ich mich noch. Es guckten überall Papierrollen und Zeitschiften hervor. Chaotisch also, aber auch gemütlich.

Nun rücken wir noch einmal zehn Jahre vor. Herr Ripper, wo befanden sich die Räume des AStA um das Jahr 2000?

Bastian Ripper: Da waren vergleichsweise paradiesische Verhältnisse eingezogen. Wir hatten nach wie vor die beiden eben genannten Räume im Architekturgebäude und dann haben wir uns bei der Hochschulleitung, die uns damals mit Herrn Kessler auch sehr zugetan war, das gesamte Zwischengeschoss plus Glaskasten hier erkämpft. Das war schon eine tolle Sache gewesen. Raumprobleme haben wir keine mehr gekannt. Der jetzige AStA hat mittlerweile die Hälfte seiner Räume hier im Zwischengeschoss wieder abgeben müssen.

Herr Niemann, lassen Sie uns nun in die Zeit um 1970 eintauchen. Sie waren im ersten AStA der 1971 gegründeten Fachhochschule Darmstadt engagiert und hatten zuvor schon an der Ingenieurschule studiert. Wie waren die studentischen Interessen zu dieser Zeit organisiert?

Manfred Niemann: Ähnlich wie in einem Gymnasium, beziehungsweise einer Schule. Es gab Seminare genannte Klassen mit Klassensprechern, die bildeten zusammen die Studentenvertretung und wählten den AStA-Vorstand. Es war also ziemlich verschult.

Welche Kernthemen hatte der AStA in dieser Zeit besetzt?

Manfred Niemann: Vor der Gründung der FH ging es wirklich um die Bildungspolitik. Wie sieht die Fachhochschule aus? Wie wird sie organisiert? Wie kann eine Satzung aussehen? Welche Rechte werden wo gelagert? Wie wird das Geld verteilt? Aber: diese Themen wurden nicht in der gesamten Studentenschaft diskutiert. Was natürlich diskutiert wurde, sind Fragen, wie der Unterricht weiter stattfindet. Wie viele Leute sitzen in einer Veranstaltung? Das hat schon alle interessiert. Uns schwebte die freie Lehre vor, wie an einer Universität. Die Studierenden waren eine treibende Kraft, was die Hochschulreform betrifft.

Später stand der AStA auch für eher linke Themen oder Proteste gegen die Atomkraft. War das zu Ihrer Zeit auch schon so?

Manfred Niemann: Aber natürlich. Die erste Gruppe, die den AStA getragen hat, nannte sich sozialistische Studentengruppe. Wir hatten Marxschulungen und Kapitalschulungen gemacht und all das organisiert. Dadurch, dass die Studenten damals 50 Prozent Stimmrecht hatten, konnten wir sogar mitbestimmen, welche Dozenten eingestellt wurden. In manchen Fachbereichen gab es hier ganz klare Besetzungen mit neuen, progressiven Menschen. Wir waren damals der Meinung, wir hätten uns eine Fachhochschule erkämpft. Aber natürlich war es eine zwingende Notwendigkeit, die Ingenieurschulen abzuschaffen und die Hochschulen zu konzipieren. Es gab viel zu wenige Studenten und sehr viel mehr Bedarf von der Industrie. Die Hauptforderung zur Bildungsreform kam also von der Industrie. Die wollten eine andere Ausbildung haben.

Dennoch gab es an den Ingenieurschulen um 1970 Studentenunruhen. Warum?

Manfred Niemann: Der äußere Anlass war die Anerkennung des graduierten Ingenieurs in der Europäischen Gemeinschaft. Im Ausland war der Diplom-Ingenieur anerkannt, der graduierte Ingenieur sollte aber auf das Niveau eines Technikers zurückgeführt werden. Diese Gesetzgebung galt es zu verändern. Die Ingenieurschulen sollten dadurch aufgewertet werden. Der innere Anlass war der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geschuldet: die Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg, mit den Eltern. Das waren Themen.

Wie haben Sie die Gründung der Hochschule persönlich erlebt? Sie waren ja mittendrin in dieser Zeit.

Manfred Niemann: Für mich persönlich ging es darum, anders zu leben. Wir waren der Meinung, dass man sich mit einem freieren Studium auch freier verhalten könnte und ganz anders leben, als unsere Eltern nach dem Krieg. Sie müssen sich das so vorstellen: hier in Darmstadt hat ja noch kaum ein Student gewohnt, wir haben alle zuhause gewohnt, es konnte sich keiner eine Wohnung leisten. Wir sind von zuhause aus finanziert worden. Es gab damals noch keine Möglichkeit, sich über Bafög oder Ähnliches zu finanzieren. Eine unserer wesentlichen Forderungen war deswegen, elternunabhängige Förderung zu bekommen, um freier zu sein, was das Studium und das Leben betrifft.

Bastian Ripper (spontan): Schon Wahnsinn, kein Bafög …

Manfred Niemann: Es gab zwar für Studenten an den Universitäten eine Förderung, für die Ingenieurschulen galt das nicht.

Antonio Finas: Wie viele Studenten wart ihr damals?

Manfred Niemann: Pro Semester wurden pro Klasse 36 Leute aufgenommen. Insgesamt waren es etwa 600 Studenten.

Was hat sich vom Gefühl her verändert, als es 1971 zur Gründung der Fachhochschule kam?

Manfred Niemann: Oh, es hat sich sehr viel geändert. Vor allen Dingen im Fachbereich Architektur. Das Projektstudium, so wie wir es uns vorgestellt hatten, wurde hier weitgehend umgesetzt. Hier gab es Menschen, die das Ganze sehr forciert haben. Unter anderem der spätere Rektor Thomas Geil.

Antonio Finas: In der Wasserbautechnik war es zum Teil auch später noch so. Wir haben oft drüben gesessen und gesehen, dass die in Projektgruppen gearbeitet haben.

Manfred Niemann: In der E-Technik war das gar nicht denkbar.

Nun machen wir einen Sprung von dreißig Jahren und blicken auf den AStA um das Jahr 2000. Welches waren die Kernthemen, Herr Ripper?

Bastian Ripper: Zu dieser Zeit gab es einen Generationenwechsel. Es kam eine neue, meiner Ansicht nach politisch sehr agile, Truppe in den AStA hinein. Wir hatten uns drei Schwerpunkte gesetzt: wir wollten den AStA in der Hochschule stärker verankern, das wurde zuvor vernachlässigt. Die studentischen Sitze im Senat und in vielen Hochschulgremien waren verwaist. Da haben wir dafür gesorgt, dass das anders wurde. Das heißt, dass wir bei entsprechenden Wahlen mit Listen kandidiert haben und eine ganz agile Truppe im Senat hatten, mit einem uns damals sehr wohlgesinnten Präsidium um Herrn Kessler und Herrn Wentzel. Es war möglich, dass Hochschuldemokratie gelebt wurde. Der zweite Punkt war, dass wir auch innerhalb der Stadt zum Faktor werden wollten. Wir wollten, dass die Hochschule politisch auch wahrnehmbar ist. Drittens waren wir der Meinung, dass Studierende vom AStA auch ganz pragmatisch gesehen etwas haben müssen. Der Serviceaspekt ist wichtig. Der Student muss wissen, warum er von seinem Geld pro Semester etwas gibt. Wir haben zum Beispiel mit dem Cinemaxx oder einer Autovermietung eine Kooperation gestartet. Man sollte wissen, dass der AStA das Glaskasten-Café betreibt und die Kultur am Campus unterstützt. Dass es auch für Leute, die nicht politisch sind, greifbar wird, dass der AStA einen Sinn hat.

Herr Finas, Sie waren zwar nicht im AStA engagiert, aber trotzdem sehr engagiert für Studierende. Sie gelten als der Erfinder des Semestertickets, das sich von der Hochschule Darmstadt aus ja bundesweit verbreitet hat. Wie kam Ihnen die Idee zu dem Ticket und was gab Ihnen die Gewissheit, dass es durchsetzbar ist?

Antonio Finas: Ich war in Konvent und Rat engagiert und hatte mir überlegt, wie man die Attraktivität der Hochschule erhöhen kann und wie man die Studenten dazu bekommt, sich mit ihrer Hochschule zu identifizieren. Dann hatte ich in einem Zeitungsartikel gelesen, dass die Niederländer ein Semesterticket landesweit eingeführt hatten. Das fand ich klasse. Wir hatten hier ja eine unheimliche Parkplatznot gehabt, die Fahrräder hatten sich gestapelt. Es war Wahnsinn und gigantisch, diese Ströme zu sehen. Mit einem Kommilitonen hatte ich mich schließlich über das Ticket unterhalten und ihn gefragt, ob wir das nicht einmal probieren möchten. Das war der Joachim Backes. Dann haben wir das Ganze dem AStA vorgestellt und so nahm es seinen Lauf.

Wie ging es dann weiter mit dem Projekt Semesterticket?

Antonio Finas: Es ging überraschenderweise butterweich. Es war eine Zeit, in der die Verkehrsbelastung ein großes Thema war. Bei den engagierten Studenten an der Hochschule hatten wir deswegen relativ schnell ein offenes Ohr. Es ging dann im Grunde nur noch um die Frage, wie viel es kostet. Die Idee war ja von Anfang an, es über die Semestergebühr einzuziehen. Wir hatten deswegen auch Rechtsfragen zu klären, denn man kann nicht einfach eine Gebühr erheben. Professor Roßnagel konnten wir für das Rechtsgutachten hierzu gewinnen. Auch das klappte problemlos, wie überhaupt so vieles damals. Egal, wo man hinkam, war der Buschbrand da. Sofort offene Arme, das kann ich immer wieder nur begeistert erzählen. Wir waren auch sehr früh bei Rektor Kremer oben und der Kanzlerin, Frau Göbel. Die haben gesagt: macht das, wir stehen dahinter, ist eine gute Sache. Außerdem hebt das auch das Ansehen der Studenten beim ÖPNV, die durchaus als Schwarzfahrer galten.

Wie hat der ÖPNV reagiert?

Antonio Finas: Es war damals sehr leicht, an die Geschäftsführung heranzukommen. Für uns war es zwar schon ein komisches Gefühl, da einfach so reinzumarschieren. Wir haben denen dann aber vorgerechnet, dass es so und so viele Schwarzfahrer gibt, und dann haben die auch schon genickt. Argument war auch, dass sich der Füllgrad in den Bussen und Bahnen erhöht, wenn die Studenten abends noch arbeiten. Wir haben das Projekt also vorgestellt und im Grunde wurde das Ganze schon in der ersten Runde von der Heag mit Handschlag verabschiedet. Wir konnten uns zunächst gar nicht richtig freuen, denn wir konnten es nicht fassen. Nun ging es noch darum, politisch in Wiesbaden durchzugehen. Problem war damals, dass wir einen Regierungswechsel von Schwarz-Gelb auf Rot-Grün hatten. Wir hatten unsere Hoffnungen an Joschka gehängt, deswegen haben wir da angerufen. Sein persönlicher Referent sagte uns damals, der Joschka hat dafür keine Zeit. Wir haben gesagt: Moment mal, ihr seid die Grünen, ihr seid Umweltministerium. Was seid ihr denn für Typen? Aber wir hatten noch zwei Ministerien, die wir anklingeln konnten. Das Wissenschaftsministerium hat gesagt: Ja, wir haben von der Sache gehört. Wir unterstützen euch. Aber, wir sind nicht zuständig. Das war das Verkehrsministerium. Herr Welteke war damals Minister. Das ging ebenfalls wie Butter, die waren alle wie weichgespült. Es war easy. Herr Welteke hat uns auch geschrieben, dass er das Ganze begrüßt und das Engagement toll findet. Vom Joschka hat man hingegen nichts gehört, das war die pure Enttäuschung für uns. Die letzte Zitterpartie war dann die Einspruchsfrist. Aber auch das ging gut.

Das Ganze galt damals ja zunächst nur für die Studierenden der Fachhochschule Darmstadt, richtig?

Antonio Finas: Ja. Der AStA der TU hatte sich zwischendurch einmal bei uns gemeldet, dass sie auch einen Kontakt suchen. Wir haben das unserem Heag-Gesprächspartner auch vorgetragen, der sagte, dass man das auch mit der TU machen wolle. Wir haben natürlich auch über Darmstadt hinweg die Trommel gerührt für unser Semesterticket. Denn wenn Sie keine Öffentlichkeit schaffen, ist das nach den beiden Probesemestern, die damals in der Genehmigung drinstanden, schneller weg, als man gucken kann. Bei uns sind damals enorm viele Asten aufgeschlagen, die gefragt haben: „Könnt ihr das bei uns machen?“ Vorteil in Hessen war, dass die verfasste Studentenschaft über die Einführung des Semestertickets mitentscheiden konnte. In anderen Bundesländern regelten das die Studentenwerke, da war es schwieriger, weil denen auch andere Themen wichtig waren.

Es ist also richtig zu sagen, Sie und Joachim Backes waren die Erfinder des Semestertickets?

Antonio Finas: Das würde ich so für mich reklamieren, ja. Im Wintersemester 1991 ist es dann eingeführt worden.

Es gibt noch eine Errungenschaft für Studierende, die von der Hochschule Darmstadt ausging und dann bundesweit Schule gemacht hat. Damit sind wir im Jahr 2002. Da kam das Theaterticket.

Bastian Ripper: Ja, 2012 ist Jubiläum. (Ruft Anke Wiertelortz, Geschäftsführerin des AStA der Hochschule Darmstadt) Anke, 2012, zehn Jahre Theaterticket (lacht).

 

Auch das Theaterticket hatte durchschlagenden Erfolg. Wie kam Ihnen damals die Idee zu dieser Kulturflatrate?

Bastian Ripper: Ich hatte ja vorhin schon erwähnt, dass wir im AStA auch den Servicebereich stärken wollten. Da gab es damals den guten Umstand, dass das Staatstheater eine Studie gemacht hatte, weil es sich in einer Krise befand. Da sind die zu dem erschreckenden Ergebnis gekommen, dass der durchschnittliche Besucher 59 Jahre alt ist. Dann hat der damalige Direktor, Michael Obermeier, gefolgert, dass das nur noch wenige Jahre gut gehen kann. Er kam auf uns zu, es gab also ein Gespräch, und wollte wissen, was man machen könnte. Zunächst kam dann die Werkstattbühne regelmäßig zu uns und hat Inszenierungen hier im Glaskasten-Café gemacht. Wir kamen schließlich auch ins Gespräch darüber, dass die Ermäßigungen für die Studierenden noch nicht so weit gediehen sind. Herr Obermeier war von seiner Person her ein sehr offener und unkonventioneller Typ. Man braucht ja auch Gesprächspartner, die alles nicht so schwer nehmen. Und so kamen wir gemeinsam auf die Idee zu sagen, wie wär´s eigentlich, nicht das einzelne Ticket zu ermäßigen, sondern den Leuten auch mal die Möglichkeiten zu geben, Vorstellungen zu besuchen, für die sie sonst kein Ticket kaufen würden. Oper hat ja zum Beispiel in studentischen Kreisen eher ein schwieriges Image. Man geht da auch nicht mit Ermäßigung rein, aber man würde es machen, wenn es umsonst wäre. Und so war die Idee geboren: Machen wir doch ein Ticket, das Staatstheater braucht schließlich junge Besucher. Und es ist ja auch bekannt, dass Fachhochschulabsolventen eher in der Region bleiben. Das wussten die auch, dass das eine Kundenbindung für sie ist. Und dann hat Herr Obermeier den Betrag von fünf Euro pro Student in den Raum gestellt. Wir haben das hochgerechnet, aber da wäre weit mehr als die Hälfte des damaligen Semesterbetrags weggewesen, der dem AStA zur Verfügung steht. Dann haben wir den Deal gemacht, dass der AStA einen Pauschalbetrag pro Semester zahlt und man drei Tage vorher jeden Rang und jeden Platz buchen kann. Und darauf hat er sich eingelassen. Auch der damalige Intendant Herr Umberg fand es gut.

Wann ist das Semesterticket eingeführt worden?

Bastian Ripper: Am 1. September 2002. Die Verhandlungen haben gut und gerne ein Dreivierteljahr gedauert.

Anke Wirtelortz (kommt spontan aus ihrem Büro): Dazu möchte ich noch anmerken, dass das Theaterticket damals ziemlich umgehend von der Uni Saarbrücken adaptiert worden ist. Dann hat die TU nachgezogen, die EFH und nun ganz neu die Uni Mainz.

Bastian Ripper: Wenn so etwas Kreise zieht, ist das natürlich super. Hier in Darmstadt sind wir nun bei gut 2.000 Besuchen pro Jahr.

Nun wollen wir die Runde wieder ein bisschen öffnen. Engagierte Studierendenschaft heißt ja auch, dass man etwas bewegen möchte und auf sich aufmerksam machen muss. Welche Aktionen hatten Sie zu Ihrer Zeit hier an der Hochschule durchgeführt und mit welchem Hintergrund?

Bastian Ripper: Die mit Abstand frechste Aktion war verbunden mit der ehemaligen hessischen Sozialministerin Silke Lautenschläger, es war während der Debatte um die Einführung allgemeiner Studiengebühren. Da haben wir gesagt, dass man selbst kein Anrecht hat, schlafen zu können, wenn man Studierenden in Finanznot schlaflose Nächte bereitet. Wir haben uns dann einen LKW gemietet mit einem sehr guten Soundsystem und sind damit ins Modautal gefahren, nachts um zwei oder um drei, und haben Mozarts kleine Nachtmusik in großer Lautstärke gespielt. Ich habe einen Redebeitrag gehalten, auch der Hessische Rundfunk war mit dabei. Wir hatten auch bengalische Feuer mitgebracht, das ganze Dorf war wach. Die Sozialministerin hat sich aber nicht vor die Tür getraut, wobei wir wirklich direkt vor der Tür standen. Das war schon eine spannende Aktion, es gab natürlich auch einen riesigen Polizeieinsatz. Da waren wir auch auf Seite eins vom Echo und anderen Zeitungen, da waren wir stolz drauf.

Antonio Finas: Habt ihr das angemeldet?

Bastian Ripper: Natürlich nicht. Im Zusammenhang mit der Einführung von Studiengebühren gab es übrigens noch weitere Aktionen. Wir hatten zum Beispiel mit einem TV-Kostümverleih zusammengearbeitet für eine Aktion mit DDR-Grenzern. Hintergrund war, dass die Landesregierung damals auch die Asten beschneiden wollte, also an die Hochschuldemokratie ran wollte. Wenn der AStA weniger als 25 Prozent Beteiligung bei den Hochschulwahlen hat, sollte das Budget gekürzt werden. Das war natürlich ein Frontalangriff. Unter dem Motto ‚Sie verlassen den demokratischen Sektor‘ hatten wir eine DDR-Grenze mit original DDR-Grenzeruniformen aufgebaut, vor dem Hochhaus mit echtem NATO-Draht und einem Grenzerhäuschen. So wurde deutlich gemacht, was die Landesregierung mit ihrem Gesetz plant. Diese Grenzeraktion kam sehr gut an. Das Grenzerhäuschen und der NATO-Draht wurden dann auch an andere Hochschulen verliehen. Es gab natürlich wieder Ärger, aber wir hatten die Unterstützung von Herrn Wentzel und bei Aktionen zuvor auch von Herrn Kessler. Herr Kessler hat ja den Satz geprägt: Wer draußen kämpft, wird drinnen unterstützt. Das war ein demokratisches Präsidium mit tollen Leuten an der Spitze.

Herr Niemann, erinnern Sie sich noch an Aktionen aus Ihrer Studierendenzeit?

Manfred Niemann: 1969 hatten wir ein Semester abgebrochen und komplett in Hessen gestreikt. Das war in vielen anderen Bundesländern auch so. Es ging damals um die Reform der Ingenieurschulen, das hatte ich ja vorhin schon angesprochen. Es gab eine Vollversammlung und den Beschluss zum Streik und dann wurde das auch so gemacht. Es war auch überhaupt nicht kompliziert, das durchzusetzen, es waren alle sehr aufsässig. Das Semester wurde uns damals gestrichen. Die allerschönsten Aktionen haben wir aber damals mit Herrn Geil gemacht. So gab es Gebäude, die hatten wir beim Zusammenschluss der verschiedenen Schulen zur Fachhochschule geerbt. Unter anderem ein Haus in der Fichtestraße …

Bastian Ripper: Die Fichteburg!

Manfred Niemann: Herr Geil kam zu mir und hat gesagt, da haben wir ein Gebäude, da können wir nichts mit anfangen. Wir machen daraus ein Studentenwohnheim. Dann habe ich gesagt, ok, wir machen daraus eine WG …

Antonio Finas: Eine Kommune …

Manfred Niemann: Genau, eine Kommune. Wir haben uns also die Leute zusammengesucht, die da wohnen. Es war das erste Studentenwohnheim der Fachhochschule Darmstadt. Und das hat lange bestanden, die Fichteburg war auch eine große Anlaufstelle gewesen für die politische Szene in der Fachhochschule.

Bastian Ripper: Bis vor zwei oder drei Jahren das Ende kam.

Manfred Niemann: Viele der damaligen WG-Bewohner haben später geheiratet und sind heute noch miteinander verheiratet. Das hat also wunderbar funktioniert. Und der Herr Geil war ein sehr charismatischer Mensch gewesen. Leider ist er sehr früh gestorben.

Im Zusammenhang mit ihm erinnere ich mich an eine Aktion während des Vietnamkrieges, da haben wir die Scheiben des Hochhauses beschrieben. Herr Geil hat uns zu sich gerufen und gesagt, eine Woche könnt ihrs lassen, dann kommts weg. Wir haben gesagt, der AStA erklärt sich bereit, die Reinigung zu übernehmen, wenn die Amerikaner aus Vietnam abziehen. (Lautes Lachen in der Runde). Das haben wir dem Herrn Geil so geschrieben, er hat unterschrieben und einen Stempel drunter gemacht und dann blieb das an den Scheiben bis zum Semesterende.

Herr Finas, an welche Aktionen erinnern Sie sich? Im AStA waren Sie ja damals nicht organisiert …

Antonio Finas: Der AStA und ich hatten andere Zielsetzungen zu der Zeit. Er war politisch durchwirkt, Flüchtlingshilfe, Asylantenrecht und so. Unsere elementaren Bedürfnisse waren damals gar nicht so vertreten. Man hat sich aber gegenseitig sympathisch gefunden. Wir sind als Einheitsliste angetreten und hatten als Thema zum Beispiel die Wohnungsnot. Da haben wir zum Beispiel eine Aktion mit Wohnwagen gemacht. Samstags kamen wohnungssuchende Studierende mit ihren Wagen hier auf den Campus gefahren, auf die Wiese vor der Mensa. Wir hatten dafür gesorgt, dass sie durch die Schranke kamen und hatten auch Strom organisiert. Dann haben die hier ihre Wohnwagenburg gemacht, bis vors Atrium sind die gerollt. Der Hammer. Die Solidarität war spannend. Auch Rektor Kremer hat sehr gut reagiert. (Zu Niemann) Unser Geil hieß Kremer. Wochenlang haben die hier kampiert. Das war 1988, ein heftiges Jahr. Wir hatten damals auch gestreikt, ausgehend von der FH Fulda. Die hatten damals keinen Platz, zu wenige Dozenten und haben um Unterstützung gebeten. Das traf bei uns auf super fruchtbaren Boden. Wir sind dann nach Frankfurt, Rüsselsheim und Wiesbaden zu den Vollversammlungen gefahren und dann wurde hessenweit gestreikt. Hier in Darmstadt hatten wir die Zufahrt zur A5 für mehrere Stunden versperrt.

Die Aktionen, die Sie geschildert haben, waren ja nicht nur aufsehenerregend, Sie haben auch Mut und Engagement gefordert. Wenn Sie an Ihre Zeit an der Hochschule zurückdenken: welcher Schlag Menschen hatte sich engagiert?Manfred Niemann: Ich sag immer, jene Menschen, die sich auch schon bei den Pfadfindern engagiert haben …

Antonio Finas: Helfersyndrom …

Manfred Niemann: … und die das in ihrem Leben auch weiter so machen. Die hören eigentlich nie damit auf.

Stichpunkt Engagement. Sind Studierende heute noch kämpferisch genug, um so etwas durchzuziehen?

Antonio Finas: Seit dem Bologna-Prozess gibt es eine deutliche Veränderung. Ich sehe das an den Praktikanten, die in meine Abteilung kommen. Die sind keineswegs unpolitisch, aber sie sind so eingebunden und verpflichtet in die Aktivitäten, die sie als Student mit einem Pflichtprogramm zu erledigen haben, dass sie da nicht mehr rechts oder links gucken.

Bastian Ripper: Da würde ich mich hundertprozentig anschließen. Das ist bei den Praktikanten in der Sozialen Arbeit genauso.

Antonio Finas: Wie sollst du denn zu einem wertvollen Mitglied dieser Gesellschaft werden, wenn du gezwungen bist, in einem gewissen Raster zu arbeiten und zu liefern? Man hat das schon keimfrei gemacht und entpolitisiert die Menschen, wenn man ihnen nicht die Gelegenheit gibt, sich zu engagieren.

Bastian Ripper: Wir haben heute Sozialpädagogen, die sind 21. Ich kann für mich sagen: in Beratungsdiensten kann man einen 21-jährigen nicht gebrauchen. Den kann man im Kindergarten und im Jugendhaus einsetzen, aber in der Gemeindepsychia­trie wird so jemand nicht für voll genommen. Das ist ein Problem.

Manfred Niemann: Das ist aber in allen Berufen so.

Letzte Frage. Wenn Sie auf Ihr Studium zurückblicken. Welche Erinnerungen kommen Ihnen dabei spontan?

Manfred Niemann: Für mich war es die Zeit der Emanzipation gewesen. Absolut. Alle Möglichkeiten, die dieses Leben bietet, einmal zu erkunden. Das gibt das Studium heute nicht mehr her. Bei uns hat es das damals zunächst aber auch nicht hergegeben. Wir mussten dafür kämpfen.

Bastian Ripper: Neben der guten Ausbildung sind es bei mir Gefühle der Solidarität und Gemeinschaft. Der AStA war für mich schon zentral im Studium.

Antonio Finas: Für mich war es eine freie Zeit. Sich entwickeln können, sich ausprobieren können. Gleichgesinnte treffen. Es war auch gesellschaftlich so, dass es akzeptiert wurde, wenn man länger studiert hat. Es war eine tolle Zeit.

Herr Finas, Herr Niemann, Herr Ripper: vielen Dank für das Gespräch!

Manfred Niemann

Manfred Niemann (65) gehörte dem ersten AStA der 1971 gegründeten Fachhochschule Darmstadt an. Seit 1968 hatte er an der Ingenieurschule für Maschinenbau Elektrotechnik studiert, eine der Vorgängereinrichtungen der Hochschule, und war bereits im dortigen AStA engagiert. 1972 beendete Manfred Niemann sein Studium an der FH Darmstadt. Heute ist er Geschäftsführer der in Darmstadt ansässigen Gesellschaft für Ökologie.

Antonio Finas

Antonio Finas (46) hatte von 1986 bis 1991 an der Fachhochschule Darmstadt Elektrotechnik in der Fachrichtung Nachrichtentechnik studiert. Heute arbeitet er bei der auf Rundfunkübertragungstechnik spezialisierten Media Broadcast GmbH mit Sitz in Darmstadt.

 

Bastian Ripper

Bastian Ripper (36) studierte von 1999 bis 2005 Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt Bildungs- und Beratungsarbeit an der FH Darmstadt. Von 2002 bis 2005 war er AStA-Finanzreferent. Heute arbeitet er beim Caritasverband Darmstadt als Koordinator für soziale Projekte sowie als Diplom-Sozialpädagoge im Gemeindepsychiatrischen Zentrum der Darmstädter Caritas.

Das Interview führte Simon Colin